1. Dezember
Die Frau am Boden sah schlecht aus. Richtig schlecht. Nicht im Sinne von „nicht hübsch“ oder „allzu arg betrunken“ oder „einfach mies angezogen“ – mehr im Sinne von „tot“. Dass das nicht gut war und das Messer in seiner Hand nichts besser machte, war Ricky klar. Logisch – dumm war er ja nicht. Wer das nicht glaubt, der schlage doch bitte eine der vielen wissenschaftlichen Abhandlungen des Richard Hanspeter Latwerger auf. Volle Punktezahl. Bei. Jeder. Einzelnen. Bitte sehr. Aber da lag sie nun mal – und daneben stand er halt jetzt. Blut tropfte vom Messer auf seine schwarzen Schuhe, perlte vom glatten Lack ab und sammelte sich in einer Kerbe zwischen Leder und Sohle. Schweiss rann über Rickys Rücken. Das war natürlich absolut unsinnig, wusste er doch, dass er mit all dem hier nichts zu tun hatte. Er war bloss zur falschen Zeit am falschen Ort. Nun konnte Ricky nicht anders, als sich ein kleines Lächeln zu erlauben, ein melancholisches – mit einem ironischen Hauch vielleicht. Keine halbe Stunde war es her, da hatte er siegessicher an der Bar gelehnt, sich mit der Linken durchs dunkle Haar gefahren, die Hüfte leicht herausgestellt, wie er das immer machte, weil es einfach umwerfend aussah, mit der Rechten das kühle Glas mit dem frischen Amaretto Sour an die vollen Lippen geführt, einen grossen Schluck getrunken und dann, erst dann, hatte er sich zu Simeon umgedreht. Simeon war einerseits der Sohn des besten Freundes seines Vaters und darum unumgänglich. Er war andererseits aber auch der anstrengendste Mensch, den Ricky kannte. Simeon, immer nachdenklich, immer zurückhaltend, immer schüchtern, immer leise, immer wissbegierig, immer zur falschen Zeit am falschen Ort (nun ja, zumindest fast immer) und damit ein dicker, fetter Dorn in Rickys bergseeblauen Augen. Aber Ricky war gut genug erzogen worden, um zu wissen, dass man bei den richtigen Leuten vieles schlucken musste. Es würde sich irgendwann bezahlt machen. Simeon also hatte zu Hause bleiben und lernen wollen. Ricky wollte weg. Dienstagabend hin oder her. Weil sich das alleine aber allzu schlecht machte – und Ricky sich das heute am allerwenigsten leisten konnte, weil er nämlich gehört hatte, dass Lisa, nun, aber das würde er keinesfalls irgendwem, egal – hatte er Simeon genötigt, ihn zu begleiten. Der stand nun da, an der Bar, nippte an seinem Küsschen-Bier und tat sich schwer. Mit allem, am meisten aber damit, dass Ricky wieder erwarten die ganze Bar kannte – er aber keine Seele. Ricky jedenfalls, hatte entdeckt, wen er zu entdecken hoffte – und sogar noch mehr. Nun sagte er langsam zu Simeon: „Das, mein Freund, nennt man „Zur rechten Zeit am rechten Ort sein“.“
2. Dezember
Von seiner aktuellen Position aus konnte Ricky nicht anders, als über die Ironie der Zeit, die seine Worte ins Gegenteil verkehrt hatte, zu lächeln. Wie sollte man einem solchen Schicksal denn auch sonst trotzen?
Die Frau, die ihrem Schicksal ganz offensichtlich nicht hatte trotzen können, lag auf dem schwarzen Asphalt. Es war ein kühler Tag gewesen, Nieselregen in der Luft und Regenschirme in den Taschen. Auch die Nacht war feucht – anders, als Ricky sich das vorgestellt hatte, aber nichts desto trotz feucht – und hatte das Haar der Toten kraus gemacht. Oder vielleicht war es das so oder so. Ihre Augen waren offen und vielleicht auch leer. Sie zeigten jetzt, kurz nach 3 Uhr in der Früh, ziemlich genau in Richtung Orion. Sternbild, nicht billige Spelunke. Sie trug ein dunkelgrünes Kleid, bodenlang, das so gar nicht zu einem Dienstagabend passen wollte. Einer ihrer hochhackigen Schuhe war ihr vom Fuss gerutscht, die Absätze von beiden sahen mitgenommen aus. Ein beiger Mantel lag unter ihr, wie ein Tuch, in dem noch die dünnen Arme steckten. Ihr roter Lippenstift war intakt, das Makeup begann sich aufzulösen und Ricky überlegte, ob das am Tod oder am Nebel lag. Der Bauch war offen, Blut tränkte die zerfetzten Ränder des Kleides und die Vorgehensweise ihres Mörders –ein solcher war offensichtlich mit von der Partie gewesen – schien klar.
Von dem Messer in Rickys Hand fiel ein zweiter Tropfen. Er nahm denselben Weg, wie der erste. Ricky’s Uhr tickte. Nicht im übertragenen Sinne. Er trug eine mechanische IWC. Die tickte, und wenn es so still war, wie jetzt, dann fiel das ganz besonders auf.
3. Dezember
Würden die Kriminaltechniker das Messer in die Finger bekommen – was zu ihrem erklärten Ziel werden würde, sobald man die Leiche gefunden hätte – müsste ihnen erst irgendwer klar machen, dass das Blut am Messer nicht das war, welches aus dem Bauch quoll. Und wenn doch, dass Ricky dafür nichts konnte. Seine Mutter würde den Fachleuten dabei bestimmt auf die Sprünge helfen. Doch was geschähe mit ihm, bis es soweit war? Ricky hatte weder Lust noch Zeit, das herauszufinden. Er hatte während der beiden letzten Semesterwochen Prüfungen und, wie alle normalen Studenten, zu wenig gelernt, aber, anders als viele normale Studenten, Ehrgeiz und Plan, das alles innert nützlicher Frist einzuholen. Sofern ihm nichts Nennenswertes dazwischen kam. Eines Mordes verdächtigt zu werden, nun, das wäre etwas Nennenswertes.
Ricky beschloss also, den guten Noten zuliebe, auf die Tatwaffe zu verzichten. Sich ihrer zu entledigen, für immer und ewig. Er blickte sich um, einige Haarspitzen – von denen Ricky nun sicher war, dass sie auch ohne Feuchtigkeit gelockt blieben – wehten bedauernswert im Wind. Kein Mensch war in der Nähe. Die Fenster waren schwarz, die Strassen leer, die Leiche lag im Schatten. Der Boden war glatt, Rickys Schuhsohle ebenfalls, angefasst hatte er nur das Messer in seiner Hand. Sein Anzug war noch immer makellos. Abgesehen von dem Bier-Spritzer, den Simeon ihm zugefügt hatte, als er sein Küsschen-Dings aufgemacht hatte. Simeon… Wo der wohl abgeblieben war? Ricky atmete keinmal tief durch, das hatte er nicht nötig, schloss anstelle dessen dankbar die Augen über Simeons Fernbleiben und schlenderte der Strasse entlang hinunter zum Fluss. Das eiskalte Wasser brannte wie Feuer an seinen Fingern, dennoch säuberte er das Messer minutiös. Danach steckte er da es in seine Hosentasche. Um die Schuhe würde er sich zu Hause kümmern – es handelte sich dabei um handgearbeitete Lederstücke. Da kam ihm kein Flusswasser dran. Tropfen hin- oder her. Dann zückte Ricky sein Telefon und suchte im SMS-Posteingang nach Anna – Anna, eine Geschichte für sich. Die Hauptsache war jetzt aber, dass sie gerade ausserhalb bei Freunden in einem Haus mit Garten wohnte. Notfallmässig und nur vorübergehend, maximal noch zwei Tage, das zumindest hatte der neue Vermieter ihr versprochen. Ihre neue Wohnung hätte nämlich auf den 1. Dezember bezugsbereit sein sollen. War sie aber nicht. Zum Glück.
4. Dezember
Ricky dankte allen Göttern des Firmaments dafür, dass er sein Rad seit etwa drei Monaten am Bahnhof stehen hatte und sich allen Umständen zum Trotz noch an den Code des Fahrradschlosses erinnern konnte. In etwa 15 Minuten würde er bei Anna an die Türe klopfen. Es war ihr ganz Recht, hatte er kein Taxi mehr „gekriegt“. Sie hatte offenbar noch irgendwen rauszuschmeissen, bevor er kam. Normalerweise hätte Ricky sich darüber gefreut: Er mochte es, die Nummer Eins zu sein. Obwohl Anna ihm eigentlich nichts bedeutete. Eigentlich. Es ging hier nicht um die Person, es ging um die Rangfolge. Um das Gefühl. Heute aber war Ricky einfach froh, dass Anna noch wach war und ihn bald einlassen würde.
Der Fahrtwind bliess ihm kalt ins Gesicht. In seinen Händen hatte er längst kein Gefühl mehr, sein Hals brannte dafür umso stärker. In seiner Tasche fühlte er das saubere Messer. Dann tauchte endlich das Haus am Ende der Strasse auf. Ein Hexenhäuschen war es, mit schiefem Kamin und spitzem Giebel, einem überwucherten Garten, um den keiner der jungen Bewohner sich kümmern mochte und mit Licht im obersten Fenster: Anna.
Ricky schlang das Schloss wieder um sein Rad, verdrehte die Zahlen und wählte Annas Nummer. „Ich komme gleich runter“, wisperte sie in den Hörer und bald darauf hörte Ricky, wie der Schlüssel sich im Schloss drehte. Er unterdrückte den Impuls, kurz nach dem Messer zu greifen, zu fühlen, ob es noch da war, und rieb stattdessen die kalten Hände aneinander. Anna öffnete die Tür, blieb aber im Rahmen stehen. „Hey“, sagte sie und schaute ihn an. „Hey zurück“, sagte er und wusste sofort, wie lahm das nun geklungen hatte. Aber spektakuläre Umstände führen zu unspektakulärer Wortwahl. Manchmal. Es war aber in diesem Falle wohl besser, nicht mehr allzu viel zu sprechen. Er entknotete seine kalten Hände, packte Annas T-Shirt und zog sie zu sich. Sie roch gut, frisch geduscht. Sie liess das mit einem leichten Frösteln geschehen. Erst, als seine Lippen auf ihre trafen, schreckte sie zurück. „Ist da draussen Winter, oder was?“ murmelte sie. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie ihrerseits Ricky packte und ihn ins warme Haus zog.
Die Tür fiel leise ins Schloss – Anna mochte es nicht, wenn alle wussten, wie oft sie Besuch kriegte – und Ricky erlaubte es sich nun doch, eine Hand in Richtung Messer wandern zu lassen. Ganz langsam tat er das, prüfte die scharfe Klinge unter seinen Fingerkuppen und liess seine Gedanken spielen, während er mit der anderen Hand nach Anna griff.
5. Dezember
Anna und Ricky waren beide Fremde in der Stadt. Gekommen, um zu studieren. Kennengelernt hatten sie sich allerdings bei der Arbeit. Die Kellnerei hatte zwei klare Vorteile. Für Anna: Arbeitszeiten, die sich an den Vorlesungen vorbei manövrieren liessen, und dicke Trinkgelder. Für Ricky: Mitarbeiterinnen. Weibliche Gäste. Naja, und die Tatsache, dass sich damit Geld verdienen liess, von dem seine Eltern nichts wussten, weil sie es ihm nicht selber zugesteckt hatten. Anna wollte Schauspielerin werden. Oder Psychologin? Ricky war jedenfalls vom ersten Augenblick an klar gewesen, dass sie über die wohl schlechteste Menschenkenntnis überhaupt verfügte. Aber womöglich ging es bei dem Job ja auch um etwas ganz anderes. Was wusste er schon. Anna und Ricky waren demselben Tisch zugeteilt worden, was an sich einer Annäherung überhaupt nicht geholfen hatte. Die Kellnerei war nämlich auch verdammt anstrengend und Ricky hatte sich schon gefragt, ob es nicht vielleicht doch einfacher wäre, seinem Vater zu erklären, weshalb er mehr Geld brauchte – nicht ehrlich, nur plausibel – anstatt sich sowas anzutun. Aber dann kam der Feierabend und Anna zog sich in der Männergarderobe um. Nicht, weil sie irgendwen mit irgendwas hatte beeindrucken wollen. Sie hatte sich einfach in der Garderobe geirrt. Ricky beobachtete sie einen Moment und kurz bevor sie ihren Pulli ganz über den Kopf gezogen hatte, fragte er: „Darf ich die Augen jetzt wieder aufmachen?“ Sie lachte laut und nicht verlegen und begleitete Ricky in die Bar, die am längsten offen hatte in der kleinen Stadt.
Sie hatten geredet und gelacht und Ricky hatte mit Erstaunen festgestellt, dass er ihr sogar gerne zuhörte. Und zwar nicht nur, weil ihre Lippen wunderbar aussahen, wenn sie Worte formten. Ricky beschloss, darüber mit keinem zu sprechen. Er hatte einen Ruf zu verlieren. Während sie lachte und tolle Dinge sagte, drehte Anna sich immer mehr zu Ricky. Er kannte diese Körpersprache – und diskutierte mit. Sein Knie berührte wie zufällig ihres, dann legte er seine Hand auf den gemeinsamen Sofarücken. Als hätte sie es nicht bemerkt, lehnte sie sich zurück, sein Daumen lag auf ihrer Schulter, jetzt war sein Oberkörper ihr zugewandt. Sie legte den Kopf zurück, eine kleine Bewegung nur, dann lag ihr Hals in seiner Hand. Jetzt drehte sie sich zurück, ihre Augen fanden seine, sie lächelte, dann fühlte er ihre Schuhspitze an seinem Bein. „Lass uns nach Hause gehen“, sagte sie, „es ist schon spät.“
Nebeneinander liefen Anna und Ricky den runden Weg hoch. Rickys Gedanken waren jetzt anderswo. Er lenkte sie nach links, wo einige Taxis standen, und winkte eines von ihnen heran: „Wo wohnst du denn?“ Sie sagte es ihm, er beugte sich zum Taxifahrer und nannte die Adresse. Dann öffnete er die Tür für sie. Sie lächelte. „Danke für das Taxi. Schlaf gut“, wisperte sie, die Tür viel zu und das Auto war weg. Ricky stand noch da.
6. Dezember
Irgendwann hatte er es dann aber doch bis zu ihr nach Hause geschafft. Hier stand er nun mal wieder, in Annas warmer Küche, und seine Hände wurden Grad um Grad beweglicher und wärmten langsam das Metall des Messers, um das die eine geschlungen war.
Anna wollte sofort in ihr Zimmer verschwinden. Doch Ricky hatte hier noch etwas zu erledigen. Er liess das Messer los und zog sie zu sich heran, langsam und ohne die Augen von ihrem Gesicht zu nehmen. „Meine Lippen sind jetzt schon viel wärmer“, sagt er und lächelte. Er wusste, dass sich jetzt in seinen Wangen kleine Grübchen bildeten und dass diesen kleinen Grübchen kaum je Eine wiederstehen konnte. Sie grinste ebenfalls und liess sich zurück in die Küche ziehen. Er schaute ihr tief in die Augen. Nicht, dass Ricky das besonders mochte, aber er wusste, dass die Mädels es liebten. Warum auch immer. Aber was für die Mädels toll war, kam früher oder später auf ihn zurück. Sie küssten sich und es war so gut wie jedes Mal. Nur schon die Art, wie Anna küsste, war Erklärung genug dafür, mitten in der eiskalten Nacht hierher geradelt zu sein. Nur so, sollte irgendwer fragen. Was nicht der Fall sein würde. Hoffentlich. Er zog sie an sich, sie zog ihn zurück, er fühlte ihren warmen Körper unter dem dünnen T-Shirt-Stoff und liess sich von ihr die Jacke von den Schultern streifen. „Komm hoch“, raunte sie ihm ins Ohr. Aber, wie gesagt, Ricky hatte noch etwas zu erledigen. Erneut liess er nicht nur seine Gedanken, sondern auch seine Hand zum Messer wandern. „Geh du schon mal“, flüsterte er zurück, „ich muss noch aufs Klo. Die Spülung oben ist so laut“. Sie nickte und verschwand im Dunkeln der Treppe. Ricky blickte ihr nach, aber sie war verschwunden, ehe er einen Gedanken hatte fassen können. Im Badezimmer untersuchte er jeden Zentimeter seines Körpers. Kein Blut. Nirgendwo. Auch am Messer nicht mehr. Dann zog er an der Spühlleine, schlüpfte zurück in die Küche, zog leise eine Schublade auf, liess das eine Messer zu den andern gleiten, schob die Schublade zu, hörte ein Klicken, wo eigentlich Ruhe hätte sein sollen, schob vorsichtiger und folgte Anna danach die Treppe nach oben.
7. Dezember
Am nächsten Morgen lag Anna verrenkt auf dem Bett. Das tat sie immer. Ricky konnte sich kaum vorstellen, wie ein Mensch, der so aufwachte, seinen Tag auch nur halbwegs erholt beginnen konnte. Aber sie tat es. Immer und immer wieder. Er verschwand unter die Dusche. Die Kleider vom Abend zuvor lagen auf dem Klodeckel, damit er verschwinden konnte, sobald die letzte feuchte Strähne seiner Haare trockengeföhnt war, da hörte er Annas Stimme: „Krass, hast du deine Push-Nachrichten schon gecheckt?“ Ricky ahnte ziemlich genau, was sie gelesen hatte. „Jetzt schon?“ dachte er verwundert und schüttelte den Kopf. „Riiiicky, hast du das schon mitgekriegt? Da ist gestern wer ermordet worden. Mitten in der Stadt!“ Das Gute an Annas vorübergehender WG war, dass ihre Mitbewohner, sehr auf der grünen Seite des Lebens beheimatet, morgens früh raus mussten. Ab 8 hatte sie das Haus für sich. Jetzt war 5 nach. Uni begann erst um 10 Uhr. Ricky zog sich an und kam aus dem Bad. „Krass“, murmelte Anna noch einmal. Ricky wollte nach Hause. Sein Haar sass nicht so, wie er das gerne hatte, keiner von Annas Mitbewohnern besass das richtige Gel. Zudem musste er aus den alten Kleidern raus, so konnte man sich ja nicht blicken lassen. Noch immer war Blut an seinem Schuh. Das konnte alles ruinieren! …dabei hatte er für die Schuhe eine Unsumme bezahlt. Er hatte also keine Lust, sich von Anna erzählen zu lassen, was er schon wusste, von ihr würde er sich nur aufhalten lassen, wenn sie jetzt, also – nein! Nicht einmal dann. Aber Anna war nicht zu bremsen: „In den frühen Morgenstunden wurde in der Nähe des Stadttheaters die Leiche einer 24-jährigen Schweizerin geborgen. Ein Passant hatte die Ambulanz alarmiert, nachdem er die junge Frau blutend am Boden hat liegen sehen. Die Polizei sucht nach Zeugen.“ Anna schaute mit grossen Augen von ihrem Mobiltelefon zu Ricky und wieder zurück. „In den Kommentaren steht, dass die Mordwaffe direkt neben der Frau gelegen habe. Ein Messer“, sagte sie dann. Jetzt wurde Ricky hellhörig. „Unmöglich“, murmelte er. Sein Blick verfing sich Schutz suchend in einer goldenen Maske, die an grünen Seidenbändern an Annas Garderobe baumelte. „Was denn?“, fragte Anna aber prompt. „Dass du dir die Kommentare zu so was anschaust. Echt jetzt. Wie sensationsgeil kann man den sein?“ Sie grinste und er verdrehte die Augen. Sich nur nichts anmerken lassen. „Kann ich was essen bei dir?“, fragte er dann und sie nickte – den Blick zurück auf dem Bildschirm.
In der Küche öffnete Ricky den Kühlschrank, nahm sich ein gekochtes Ei und Käse, zog die Besteckschublade auf, diesmal glitt sie lautlos durch ihre Halterung, und nahm das Messer, das er gestern Abend hineingelegt hatte, wieder heraus. Es war ein und dasselbe. Unmöglich, dass es noch neben der Leiche lag. Absolut unmöglich. Es war da, in seiner Hand. Jetzt schnitt er den Käse damit. Dann das Ei. Es war das Messer.
8. Dezember
„Lass nur, ich wasche dann alles zusammen ab“, hatte Anna gesagt und Ricky hatte das Messer nur zu gerne liegengelassen. Der Geschmack von Ei und Käse vermischte sich in seinem Mund zu etwas Ekligem und er freute sich nun noch viel mehr auf seine eigenen vier Wände. Seine grossen vier Wände. Seine ausladenden, eisweiss gestrichenen vier Wände. Ja, okay, vielleicht nicht ganz seine. Vielleicht auch ein wenig jene von Simeon – und dessen Querflöte. Die Präsenz der Flöte war definitiv stärker, als jene von Simeon selber. Zum Glück war Ricky meist nur dann daheim, wenn Simeon und sein in Gold gefasstes Instrument entspannt in ihren jeweiligen Bettchen ruhten. Dennoch: Hätte Ricky von Simeons Hobby – die Eltern, von beiden, nannten es „Berufung“, Ricky eher so „Widerwärtigkeit“ – gewusst, er hätte sich noch viel vehementer dagegen gewehrt, die Wohnung mit ihm zu teilen. Dann hätten die Väter sich diese Idee irgendwohin schmieren können. Inklusive der eisweissen Wandfarbe, die, das musste Ricky zugeben, aber schon verdammt gut aussah. Logisch, er hatte sie ja auch ausgewählt. Zusammen mit dem hellen Parket und den harten Loft-Möbeln. Dazwischen sah Simeons Notenständer absolut verloren aus. Ricky blickte sich um, sah von dem unpassenden Objekt keine Spur, freute sich, dass Simeon das Ding endlich in sein Zimmer verschoben hatte, und griff nach seiner Zahnbürste. Elektrisch. Mit Ultraschall. Aaaaah! Tat das gut. Ricky stellte sich noch einmal unter die Dusche – Brausekopf Regenwald, dagegen konnte Annas Billig-Teil nur mithalten, wenn sie selber mit drunter kam. Ricky schlüpfte in seinen weichen Bademantel und war gerade dabei, sein Outfit für einen Tag voller Vorlesungen zurecht zu legen, als das Telefon klingelte. Festnetz, nicht Mobil. Kein Mensch rief darauf an. Niemals. Rickys Herz pochte. Allerdings war diese Nummer im Telefonbuch zu finden. Der weiche Bademantel sog die Schweissperle auf, die über seinen Rücken hatte kullern wollen. „Richard Latwerger?“ fragte eine kühle Stimme durch den Hörer.
„Richard Hanspeter Latwerger“, hört Ricky sich sagen. „Echt jetzt?!“, schoss es kurz danach durch seinen Kopf, doch sein Ego war schneller gewesen. Stille am anderen Ende. Dann: „Ich spreche also mit Richard Hanspeter Latwerger?“ Ricky’s Blick glitt von der beigen Hose über den cremeweissen Kaschmirpullover. Saubere Sachen. Frische Sachen. Damit hatte er sich die letzten Erinnerungen an Leichen, Blut und Messer vom Leibe halten wollen.
9. Dezember
„Elena Bongi am Apparat. Ihre Mutter lässt fragen, ob Sie heute Abend noch frei sind?“ Ricky lachte. Laut und gelöst. Dann fuhr er sich mit der Hand durch die Haare, sah dabei selbstverständlich unglaublich toll aus, doch selbst wenn er jetzt vor einem Spiegel gestanden hätte – es wäre ihm nicht aufgefallen. Pure Erleichterung machte sich breit.
„Darf ich ihr also ausrichten, dass Sie heute um 19.30 Uhr bei ihren Eltern zum Abendessen vorbeikommen?“
Ricky hatte sich wieder gefasst. „Ja, bitte, tun Sie das. Und erinnern Sie meine Mutter doch daran, dass ich aktuell sehr viel Protein zu mir nehmen muss. Sie soll das Essen danach ausrichten. Und wenig Kohlenhydrate.“ Die einzigen Kohlenhydrate, die Ricky zu sich nahm, waren jene, die im Alkohol mitschwammen. Damit diese seine Figur nicht komplett ruinierten, musste er bei der festen Nahrung strickt sein. Während Ricky seine dunkelbraune Ledertasche packte, pfiff er munter vor sich hin. Simeon würde sich die Ohren zu halten, er konnte keine falschen Töne ertragen. Simeon. Wo war der eigentlich? Ricky warf einen Blick in Simeons Zimmer: Perfekt aufgeräumt, Bettdecke und Kissen in exaktem Winkel zur Bettkante – alles wie immer. Da kam es Ricky wieder in den Sinn: Simeons Vorlesung begann ja bereits um 8 Uhr. Weil, irgendwas mit Morgenstund, hatte der Prof erklärt. Oder vielleicht hatte Simeon das auch nur so gesagt.
Rickys Zufriedenheitsgrad korrelierte negativ mit den Worten seiner Eltern. „Lange genug durchgefüttert“, „den Wert von Geld selber kennenlernen“, „nur noch Wohnungsmiete und Semestergebühren“. War das ihr Ernst?! Ricky war ein Vorzeigestudent. Wer es in der Wirtshaft weit bringen wollte, konnte doch während des Studiums nicht für sein täglich Brot arbeiten. Um Mädels kennenzulernen und so, ja, klar, da ging es ja um nichts. Aber so richtig? Mit der Kellnerei käme er nirgendwo hin – und dennoch: Die Eltern blieben hart. Ob sie Geldprobleme hatten? Oder ob sie ahnten, was gestern…? Sie konnten nicht wirklich glauben, was sie sagten: Dass es Ricky gut tun würde, einen Schritt in die Realität zu tun. Als hätte er den nicht längst getan – also, spätestens gestern. Das Bild eines grünen Kleides stieg vor seinen Augen auf. Die Hand seiner Mutter wischte es weg: Sie hielt ihm einen Ausdruck unter die Nase: „Schau, das ist doch einer deiner Professoren? Der sucht einen Assistenten. Melde dich da. Die Bezahlung ist in Ordnung und deiner Karriere kann das nur guttun, wenn du dich an der Uni noch mehr engagierst.“ Auf dem Heimweg tippte Ricky dem Professor eine halbherzige Nachricht. Als er vor seiner Haustür aus dem Wagen stieg, war ihm schlecht. Er sollte nie tippen, wenn er hinten sass. Niemals.
10. Dezember
Ricky hatte lange nicht einschlafen können. Er wälzte sich hin und er wälzte sich her und er fühlte, wie sein Zehennagel einen Satin-Faden aufgeriss. Satin-Bettwäsche war nun einmal nicht für Leute mit Sorgen gemacht. Assistent an der Uni? Ernsthaft?! Ricky konnte nur hoffen, dass sein Professor bereits jemanden gefunden hatte.
So hätte er, Ricky, es probiert, den Willen gezeigt. Sein Vater wäre zufrieden und seine Mutter würden sie mit vereintem Charme dann schon rumkriegen. Es war essentiell, dass der Professor bereits jemanden hatte. Ihm bereits auf dem Heimweg eine Anfrage zu schicken – einen Dreizeiler, Anrede und Grusswort inklusive, aber immerhin – war eine Kurzschlusshandlung gewesen. Ricky hatte seine Natur mit sich durchgehen lassen. Was du heute kannst besorgen… Das war wohl der einzige Charakterzug, den er von seiner Mutter hatte. Jedenfalls: Da er mit Abstand der beste Student seines Jahrgangs war – Ricky kam bei diesem Gedanken nicht umhin, der Dunkelheit ein überlegenes Lächeln zu schenken – würde der Professor natürlich ihn wollen. Ohne wenn und aber. Dreizeiler hin- oder her.
Endlich fielen Rickys Augen zu. Er stand vor der Bar, der letzten, die in der kleinen Stadt so spät noch geöffnet war. Seine Hand spielte mit einer roten Locke. Seine Finger glitten über grünen Stoff. Der fühlte sich glatt und kühl an unter seiner Hand, aber darunter war es warm. Sie lächelte ihn an, ihre Wangen waren gerötet. Vielleicht von der Kälte, vielleicht vom Alkohol, vielleicht seinetwegen. Ricky lächelte zurück. Er wollte sie zu sich ziehen. Wollte sie küssen. Wollte den Duft ihrer Haare fühlen. Doch plötzlich war da ein Messer. Das Messer. Sein Messer? Es fuhr in den grünen Stoff und wieder heraus. Hinein und hinaus, als wäre das warme unter dem Kleid nur Butter. Dann kam das Blut. Sie schrie. Das Messer liess sich davon nicht aufhalten. Dann sank sie zu Boden. Jetzt wusste Ricky plötzlich, was leere Augen waren. Leer. Tot. Blut pulsierte aus ihrem Bauch. Das Kleid war zerfetzt, da, wo das Rot am durchdringendsten war. Ricky wagte kaum zu atmen. Sie tat es ja auch nicht. War er als Nächster dran? Hatte man von Anfang an ihn gesucht? Das würde natürlich Sinn machen. Ein Mann wie Ricky hatte viele Feinde. Und Eltern wie seine… Ricky drehte sich um. Kampfbereit. Oder Fluchtbereit. Eher letzteres. Doch erst musst er wissen in welche Richtung. Er wollte seinem Mörder ja nicht in die Arme laufen. Doch da war keiner. Keine Menschenseele. Nur er. Und in seiner Hand das Messer, von dem sich langsam ein roter Tropf zu lösen begann.
11. Dezember
Ricky sass auf dem formvollendet falsch designten Stuhl vor dem Büro seines Professors. Selbstverständlich hatte der ihn umgehend zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen. Ricky wusste, dass er den Job hatte. Obwohl er ihn nicht wollte. Letzteres war denn auch eher der Grund, für das unangenehme Ziehen in seinem Bauch. Aber nicht nur. Da war dieser Traum. Anna kam ihm in den Sinn. Anna, die ihre Träume aufschrieb, weil sie glaubte, dass ihr Unterbewusstsein ihr damit etwas sagen wollte? Aber das Deuten sei schwer, hatte sie mal gesagt. Konnte die Botschaft des Unterbewusstseins ausnahmsweise simpel sein: „Hey, Kleiner, ich weiss, was du letzten Dienstag getan hast.“ Ricky schluckte. Auch heute trug er die schwarzen Lackschuhe nicht. Obwohl sie gepasst hätten: Er war locker gekleidet, da wäre ein Tupfen Schick ganz okay. Aber er konnte die Schuhe nicht berühren. Auch wenn sie längst wieder sauber waren. Die Tropfen entfernt, die Erinnerung weggeputzt.
„Hey, du warst doch letzten Dienstag auch auf dieser Party“ – Ricky schreckte aus seinen Gedanken hoch. Er hatte nicht bemerkt, dass sich jemand auf den Stuhl neben ihm gesetzt hatte. Ricky mochte es nicht, wenn Leute sich direkt neben ihn setzten, obwohl es genug freie Plätze hätte, um mindestens einen davon zwischen die ultimative Nähe zu schieben. Automatisch zog Ricky die Augenbrauen hoch und die Nase leicht kraus. Nun gut, auch das hatte er wohl von seiner Mutter. „Ricky, stimmt’s? Ricky Latwerger.“ Ricky nickte. Party am Dienstag? Das war doch keine Party, das war einfach ein Abend in der Bar. Hintergrundmusik. Drinks. Simeon und er, dann Lisa, irgendwo am Horizont seines Blicks. Und dann? Ja, was dann? „Sorry, ich bin schlecht mit Namen.“ Der Typ hatte den Kopf voller blonder Krausehaare und sah aus, als ginge er ins Solarium – braungebrannt, als käme er von einem Monat surfen zurück, aber nicht so angezogen, als könnte er sich das immer mal wieder leisten. Ausserdem war Vorlesungszeit. „Alois! Ist ja voll lustig, dich hier wieder zu treffen. Du hast gar nicht gesagt, dass du auch Wirtschaft studierst. Ich wohne auch in der WG, in der die Party war. Hey, weisst du, was krass ist?“ / „Das ich mich an nichts davon erinnern kann?“, dachte Ricky, fuhr sich durchs Haar und sagte gelangweilt: „Hmm?“ Alois Gesichtsausdruck liess darauf schliessen, dass er jetzt gleich eine Bombe platzen lassen würde. Und das er sich immens darauf freute. „Das Mädel, du weißt schon, die im grünen Kleid.“ Alois machte vielsagende Augen – und hatte jetzt Rickys volle Aufmerksamkeit. „Also, jedenfalls, hast du gelesen, dass in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch die Leiche einer Frau gefunden wurde? Mitten in der Stadt? Erstochen? Halt dich fest: Ich habe gehört, dass war sie!“ Alois grinste zufrieden: „Wie. Krass. Ist. Das. Denn?! Und wenn ich mich richtig erinnere, hattest du doch, also mir ihr…nicht?“
12. Dezember
„Voll krass“, brachte Ricky heraus. Er war ein guter Schauspieler. Selbstredend. Es gab nichts, in dem Ricky nicht zumindest gut war. Aber jetzt brauchte er Zeit. Einige Augenblicke nur. Er musste sich fassen. „Sag mal, hast du jetzt dann auch gleich dein Bewerbungsgespräch beim Grimm?“, fragte Alois. Er warf Ricky den Rettungsanker zu, ohne sich dessen bewusst zu sein. „Ja, voll“, sagte Ricky, und dann, „ich weiss, das klingt jetzt echt streberig, aber ich muss mich mental noch ein bisschen vorbereiten. Sammeln und so, du weißt schon. Ich brauche den Job echt dringend.“ Alois mustere Ricky, den offensichtlichen Schnösel, von oben bis unten, ihm entging weder Mamas Geld, noch Papas Fürsorge, dann zuckte er mit den Schultern. Aber Ricky war noch nicht fertig: „Aber lass uns danach doch auf ein Bier gehen?“ Ricky trank kein Bier. Er trank Champagner und gute Drinks. Prosecco, wenn es nicht anders ging, und Wein zum Essen. „Die Story musst du mir unbedingt erzählen. Zu krass, Alter!“ Hatte er jetzt übertreiben? Anscheinend nicht. Alois nickte.
„Richard Hanspeter Latwerger – Sie haben den Job“, verkündete Professor Grimm wenige Minuten später und lächelte väterlich. Ricky lächelte zurück. Gezwungen. Aber dem Professor fiel das nicht auf. Ricky kontrollierte auch seine Gesichtszüge hervorragend. Als er mit Alois in der kleinen Crêperie sass, die auch Bier verkaufte, zeigte er sein „Ich hätte nie gedacht, dass ich den Job kriege, freue mich natürlich riesig, kann das aber nicht so zeigen, denn es tut mir ja so leid für dich“-Gesicht. Alois war damit zufrieden und erzählte voller Genuss: Die Polizei war da, gleich am Mittwoch, hatte alle Bierflaschen und Gläser in Beschlag genommen, dazu auch alle Accessoires, die von der Themenparty liegen geblieben waren. „Venezianische Scharade“, Alois war sichtlich stolz auf das Motto. Die Jungs mussten für die Woche zurück zu den Eltern und bei der Polizei eine detaillierte Liste mit all den Leuten darauf abgeben, die auf der Party gewesen waren.
„Ich weiss, dass keiner von unseren Leuten das war“, schloss Alois seine Erzählung ab, „hab’s darum mit der Liste nicht ultra genau genommen. Wir waren so oder so alle total dicht. Aber man muss sich ja kooperativ zeigen“. Rickys Name stand also auf einer Liste. „Die haben unsere Bilder auf den Handys ausgewertet und Speichelproben oder was auch immer von den Gläsern genommen und danach alle, die irgendwie verdächtigt wurden, kontaktiert. War voll die Aufruhr bei uns“, fuhr Alois fort. Ricky war nicht kontaktiert worden. Wär er ein Hauptverdächtiger, dann hätte man ihn doch bestimmt als Allerersten abgeführt? Oder hatten sie ihn nicht gefunden? Reichte Ricky Latwerger in dieser kleinen Stadt nicht aus, um jemanden innert Minuten zu finden? „Was ging eigentlich mit deinem Kumpel?“ Alois war zurück in Rickys Bewusstsein. „Dieser Simeon? Der war ja ziemlich komisch drauf.“
13. Dezember
Ricky lag einmal mehr schlaflos im Bett. Er hatte sie also gesehen, bevor sie tot war? Hatte sie angefasst. Hatte Lust gehabt, sie zu küssen. Aus Angst vor dem einen Traum, der, wer konnte das schon sagen, vielleicht wahrer war, als Ricky’s Vernunft ihm einzureden versuchte, hatte sein Unterbewusstsein beschlossen, einfach nicht mehr einzuschlafen. Damit er nicht – Nacht für Nacht – seine Bettwäsche malträtierte, hatte Ricky begonnen, Radio zu hören. Aktuell seine favorisierte Sendung: „Nachtwach“. Wie passend. Die warme Frauenstimme begrüsste ihren ersten Gast. Er war nicht packend genug: Rickys Gedanken kreisten. Er erinnerte sich nicht, wie er von der Bar auf die Strasse gekommen war. Er wusste nicht, woher das Messer kam. Alles war weg. Wenn schreckliche Dinge geschehen, hatte Anna gesagt, dann blendet der Kopf die manchmal einfach aus. Verdrängen als automatischer Schutzmechanismus. Aber Ricky war doch nicht der Typ dazu! Also, zum Verdrängen, wer wusste das schon, das war womöglich diskutabel, aber Mord! Von Hand? Mit einem Messer?? Wo Ricky einen Anruf hätte tätigen müssen und mehr nicht, um sich die Weste weiss zu halten. Wobei: Das war sie ja: Kein Blut an Ricky, ausser den beiden Tropfen auf dem Schuh.
Als Ricky aus der ersten Vorlesung lief, hatte er keine Ahnung, was Grimm zwei Stunden lang erzählt hatte. Als der Professor ihn zu sich zitierte, fürchtete Ricky schon, aufgeflogen zu sein. Doch dann entdeckte er das väterliche Lächeln: „Sie beginnen am 4. Januar, ist das für sie in Ordnung? Spannendes wartet auf Sie.“ Ricky lächelte galant zurück: „Ja selbstverständlich passt mir das. Ich freue mich!“ Und dann freute Ricky sich wirklich: An der Wand, direkt gegenüber der Tür, lehnte nämlich Anna. Ricky verabschiedete sich vom Professor, strahlte Anna entgegen, fing sich aber bald. „Die Schlaflosigkeit setzt wirklich zu“, dachte er und beschloss, sich heute vom Familienarzt etwas verschreiben zu lassen. Wenn er anfing, wie ein emotional simpel gestrickter Volldepp durch die Gegend zu laufen, bloss weil er jede Nacht dieselbe Frau umbrachte, dann mussten ganz klar Massnahmen ergriffen werden. Plötzlich dachte Anna noch, er sei…nein, darauf hatte er jetzt wirklich keine Lust. Oder? „Was machst du denn da?“, fragte Ricky, als er nah genug an Anna dran war. Sie musterte ihn einen Moment lächelnd. „Ich war nebenan, die haben uns für die Prüfung in einen grösseren Raum verschoben.“ Ricky hatte keine Lust zu fragen, wie es denn gelaufen sei. „Ach so“, sagte er betont gelangweilt. Anna beobachtete ihn einen weiteren Augenblick, dann drückte sie ihm ein Päckchen in die Hand und ein Küsschen auf die Wange und war weg. Auf dem Weg zur nächsten Lesung wickelte Ricky das schmale Päckchen aus. Erst kam blaue Spitze zum Vorschein, aber darunter war noch mehr. Ricky zog ruckartig am Papier. Beinahe wäre ihm das Messer mitsamt dem Höschen aus der Hand gefallen.
14. Dezember
Was – um Himmels Willen – wollte Anna ihm damit sagen?! Wusste sie etwas, und wenn ja, wie viel? Hatte sie sich darum nicht mehr bei ihm gemeldet? Wolle sie nicht alleine sein mit ihm? Oder – ohne es zu bemerkten, hatte Ricky zu laufen begonnen, schneller und immer schneller, längst am Zimmer vorbei, in dem er jetzt sitzen sollte – oder hatte sie etwas damit zu tun? Hatte nicht sie ihm, ohne es zu wissen, sondern er ihr, ohne etwas zu ahnen, ein Alibi gegeben? Also, zumindest fast? Hatte sie das Messer bei ihm entsorgt, bevor er es ihr hinterlassen hatte? Zurückgegeben? Anna war frisch geduscht gewesen, in dieser Nacht. Wer duschte schon mitten in der Nacht? Vielleicht war da gar keiner, bei ihr zu Hause. Vielleicht hatte sie nach Hause kommen müssen, erst, nachdem sie…oder zumindest beobachtet, als… Rickys Atem ging schwer. „Nein“, sagte er sich resolut. Anna war anders. Nicht so. Er zwang sich, die Kontrolle über seinen perfekten Körper zurückzuerlangen. Ruhig zu atmen und seine ebenmässigen Gesichtzüge wieder zu glätten – es hatte keinen Sinn, jetzt schon verfrühte Faltenbildung zu provozieren. Er reagierte ganz klar und absolut über. Kein Wunder, bei dem Schlafmanko, dass er mittlerweile mit sich herumtrug.
Ruhig, beinahe schlendernd, ging Ricky zurück zur Uni, lief die Treppe hinunter zur Bibliothek und klappte seinen Laptop auf. Von zu Hause aus hätte er das nie getan, zu gross die Gefahr, dass man ihn zurückverfolgen konnte. Dass man Schuld in sein Interesse interpretierte. Aber hier konnte er den Fall, dachte er, doch getrost einmal googeln. Die angezeigten Artikel stammten alle vom 2. und 3. Dezember. Was da stand, wusste er schon. „Die Polizei sucht nach Zeugen“. Da war ein neuer Artikel, eine Meldung nur: „Die Polizei teilt mit, im Falle der jungen Frau, die in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch von einem Passanten tot aufgefunden worden war, weiterhin zu ermitteln. Drei dringend tatverdächtige Personen konnten festgenommen werden. Sie befinden sich zur Zeit in Untersuchungshaft. Der Tathergang bleibt unklar.“ Rickys Gesicht war weiss vor Erleichterung. Er lehnte sich in dem unbequemen Bibliotheksstuhl zurück, schloss die Augen und fuhr sich durch die Haare, ohne es zu bemerken. Was er dann allerdings bemerkte, war, dass eine Dusche keine schlechte Idee wäre. Ein Blick in das spiegelnde Fenster bestätigte seine Befürchtung: Die Frisur sass überhaupt nicht mehr. Während Ricky seinen Laptop in die Tasche schob, schaukelte in seinen Gedanken plötzlich und an grünen Seidenbändern eine goldene Maske. Er hatte die Maske zuvor nie gesehen. Hatte Anna sie an dem Abend getragen? Als Ricky die Wohnungstür aufschloss, freute er sich vor allem auf eine Dusche. Die Grübelei ein für alle mal, oder zumindest momentan, wegspülen. Simeon war schon wieder nicht zu Hause. Moment. Oder noch immer nicht? Wo – um Himmels Willen – war Simeon?
15. Dezember
Simeons Zimmertür, das fiel Ricky jetzt auf, war immer noch genau im gleichen Winkeln angelehnt, wie er sie hatte stehen lassen. An diesem scheinbar Jahrhunderte entfernten Morgen, an dem er von Anna nach Hause gekommen war, sich auf die Dusche gefreut und kurz gewundert hatte, dass Simeon fehlte.
Simeon, der sich in der eigenen Wohnung stets verhielt wie ein Gast. Daran war Ricky wohl nicht ganz unschuldig. Er hatte sich schon breit gemacht, gestand er sich nun ein. Aber von Simeon waren auch so gar keine Inputs gekommen. Oder doch? Ricky konnte das so genau nicht mehr sagen. Vielleicht hatte der ruhige, zurückgezogene Simeon schon mal etwas gesagt – gut möglich, dass Ricky, der immer wusste, was er wollte, Ricky, der sich nichts entgegnen liess, ja, gut möglich, dass er Simeons schwachen Versuch, aus der Wohnung ein gemeinsames Daheim zu machen, einfach überhört hatte. „Ah wenn schon“, dirigierte Ricky sein Gewissen zurück, „selbst wenn ich Simeon ein klein wenig übergangen habe, ihn stört das doch nicht. Er ist ja eine einfache Seele. Zufrieden, wenn er sein Bett hat und sein Instrument. Mehr braucht der nicht.“ Das war der Moment, in dem Ricky klar wurde, dass er von Simeon, obwohl er ihn seit Jahren kannte, ihn so oft Abends als Ausrede mit in irgendwelche Clubs geschleppt hatte, um dort nicht alleine anzutanzen und in den Augen einer seiner vielen Angebeteten als Verlierer dazustehen, nur sehr wenig wusste. Ehrlich gesagt, und es war an der Zeit, ehrlich zu sein, zumindest mit sich selber, tendierte sein Wissen über den stillen Musiker gen Null. Simeon, der die Bettdecke parallel zur -kante ausrichtete, die Flocken seiner Kellog’s Frosties jeden Morgen in die Schüssel mit Milch zählte und pro Stunde, die er mit Ricky in einer Bar verbrachte, exakt ein Bier trank. Marke Bärner Müntschi. Gab es nicht dieses, trank er keines. Ob er sich jeweils am Abend etwas kochte? Wo er zu Mittag ass? Ob er manchmal Freunde zu Besuch hatte, oder umgekehrt? Ob er Sport machte? Studierte er Philosophie – oder doch Physik? Ricky wusste es nicht mehr. Er war zu selten daheim, zu wenig interessiert. Oder Musik? Penibel wie er war, konnte man sich kaum vorstellen, dass Simeon etwas wie Musik, selbst wenn es bloss klassische war, geniessen konnte. Ja, gar von sich gab. Doch das tat er, wenn man den wenigen Stimmen Glauben schenkte, die etwas über Simeon wussten, leidenschaftlich gerne sogar.
„Asperger“, sagten manche von Ricky Freunden. „Autist“, meinten die entschiedeneren unter ihnen. Ricky wusste es nicht, wollte es auch gar nicht wissen, solange Simeon nicht zur Last wurde, war alles gut. Da fragte er weder nach der Sammlung von Violinistinnen-DVD’s, noch nach den Game-Sessions, die Simeon manchmal nächtelang einlegte.
16. Dezember
Ricky hatte es satt, drinnen zu sein. In der Wohnung, die so sehr seine war, so perfekt und toll, wie er. Er brauchte jetzt etwas, dass nicht mehr ganz war. Er zog sich seinen dunkelblauen Woolrich-Mantel über, griff nach dem grauen Kaschmirschal und stürzte aus der Tür – und merkte erst im Treppenhaus, dass anstelle der handgenähten Lederschuhe unter seinem Hosensaum Ringelsocken hervorlugten. Zurück in die Wohnung, Schuhe an, raus und los. Richtung jener Bar, in der alle waren- auch Alois, wie sich bald herausstellte. Er umarmte Ricky, als wären sie alte Freunde. „Mensch“, dachte Ricky, „krieg dich mal ein. Ich hab dir bloss den Job weggeschnappt.“ Der Gedanke gab ihm ein Stück der Überlegenheit zurück, die er seit einem Weilchen in seinem Leben vermisste. Darum dachte Ricky den Gedanken auch nicht zu Ende. Stattdessen stellte er sich an die Bar, übersah den Jüngling, dem sich die Bedienung zuerst hätte zuwenden müssen, und bestellte zwei Shots und einen Drink. Bis dieser gemixt war, hatte Ricky bereits beide Shots hinter sich gebracht. Er hatte kaum etwas gegessen, der Alkohol hatte freie Bahn. Ricky bahnte sich seinerseits einen Weg zurück zu Alois. Er musste mit dessen übrigen Freunden aus den fernen Bergen anstossen, dann wippte die Männergruppe irgendwie asynchron und doch gemeinsam, zur Musik, was sie wohl als „tanzen“ verstand, und Ricky konnte Alois zur Seite ziehen. Die beiden lehnten an der Wand, Ricky merkte jetzt, das er froh war um den Rückhalt. Alois – stockbesoffen, jetzt schon – würde sich an das Gespräch wohl nicht mehr erinnern.
„Alter man“, lallte Alois, „hast du schon wieder Eine am Start? Das geht bei dir ja voll schnell, du warst keine Viertelstunde da, und schon hattest du sie. Sie“, Alois zog das letzte „i“ lang. Dann lachte er und kippte den letzten Schluck Bier. Ricky nippte an seinem Drink, darauf bedacht, mit Abstand weniger betrunken auszusehen, als der Typ neben ihm. „Aber das Spiel geht ja immer von vorne los, jede Nacht, nicht? Oder hast du eigentlich eine Freundin?“ Ricky schüttelte energisch den Kopf. Er hatte einen regen Frauenverschleiss, ja, aber er hatte auch Anstand. Mal abgesehen davon, dass ihm Keine gut genug war und er die Abwechslung brauchte, war das mit ein Grund dafür, sich nicht auf eine Beziehung einzulassen. Zumindest in Ricks Kopf war das der Hauptgrund. Und nur das zählte. Alois, offenbar ehrlich interessiert, knüpfte an: „Nimmst du denn jeden Abend eine Neue heim? Oder hast du auch welche, auf die du mehrmals zurückgreifst?“ Einen Augenblick herrschte Stille, weil Ricky ausnahmsweise einmal nicht wusste, was er sagen sollte. Alois nutzte den Moment: „Naja, mit der Einen da wird das so oder so nichts. Die ist ja tot. Voll tot. Geschlachtet, haben die Polizisten gesagt. Schon voll makaber, hast du noch den ganzen Abend mit diesem Messer rumgespielt.“
17. Dezember
Ricky sog die kalte Nachtluft scharf ein. Um ihn blinkte die Weihnachtsbeleuchtung, an einem nahen Stand wurde auch spät abends noch Glühwein ausgeschenkt. Ricky mochte den Weihnachtsschimmer in der kleinen Stadt. Obwohl er das natürlich niemals zugeben würde. Kitsch passte nicht in seinen puristischen Einrichtungsstil. Und doch… Bestimmt hatte die alte Albertina zu Hause schon den grossen Weihnachtsbaum aufrichten lassen und mit den Holzfiguren behängt. Engel und Pferdchen, Sterne und Stöcke. Sein Vater liebte Kitsch, die Mutter duldete ihn. Ricky war als Kind ganz vernarrt gewesen in alles, was mit Weihnachten zu tun hatte. Der Nikolaus mit dem Rentier, auf dem Ricky reiten durfte, die kleinen Überraschungen des Adventskalenders – sein erster Gameboy war eine davon – der Duft von Zimtsternen und Brunsli, der harte Bollen in seinem Bauch, wenn er zu viel von Albertinas Teig stibitzt hatte. Die immer neuen Förmchen, die seine Mutter zum Ausstechen nach Hause brachte, das dicke blaue Adventsbuch, aus dem der Vater jeden Abend Engelsgeschichten las. Die Wunschliste – Ricky’s war stets besonders lang, er hatte halt schon immer gerne geschrieben – dann die Krippe, Frank Sinatra aus der Box und frisches Weihnachtsgebäck aus dem Ofen. Und dann, wenn es endlich so weit war, wenn Heiligabend da war, kam der magische Moment: Ricky musste in sein Zimmer verschwinden, damit das Christkind ungestört seine Geschenke ausbreiten konnte – was stets Ewigkeiten dauerte. Nicht gefühlt, tatsächlich, Ricky war ja ein verwöhntes Kind. War der Berg aufgetürmt, klingelte die helle Silberglocke und Ricky wusste, dass es an der Zeit war. Er hatte die Eltern mit sieben Jahren eindeutig des Christkind-Seins überführt: Damals hatte Ricky, unter vielem anderem, ein Detektivset ausgepackt; ein äusserst realistisches. Die Eltern hatten Breitwillig ihre Fingerabdrücke gegeben und, als alles still war, hatte Ricky sich zu dem silbernen Glöckchen geschlichen. Die Übereinstimmung war perfekt. Mama war das Christkind.
Ricky lächelte, obwohl er sich hätte erbrechen können. Alois offenbar auch: „Mit einem Messer, Alter. Mit dem Messer“, lallte er, dann trat ein überraschter Ausdruck in seine Augen, sein Mund verzog sich und ein Schwall Kotze verteilte sich auf dem Boden – und auf Rickys Schuhspitze. Als wäre seine Situation nicht schon schlimm genug, hörte er nun das helle lachen dreier Mädels, die unweit von ihm beisammen standen. Ricky fuhr sich durch die Haare – Schadensbegrenzung – und blickte in ihre Richtung. Einmal blond, einmal Locken, einmal gross. Jetzt redeten die Frauen wieder zusammen, erzählten alle gleichzeitig, übertönten sich und schienen trotzdem ein Gespräch zu führen. Dann wieder Lachen. Diesmal zu etwas ganz anderem. Und bevor Ricky über die Auswahl hatte nachdenken können, durchfuhr ihn die Erinnerung. Bilder waren plötzlich da – messerscharf.
18. Dezember
Lachen. Hell und laut. „Ich bin Katja.“ Die Haare waren auch trocken gelockt. Rot, fast braun, aber doch nicht ganz. Rot und hochgesteckt. Sie trug eine goldene Maske über dem Gesicht, die Aussparung der Augen zeigte viel Schminke. Gold und grün und schöne Augen. Die Lippen waren tiefrot geschminkt. Unter dem dunkelgrünen Seidenkleid zeichnete sich ihr Körper ab, zart, aber schön. Ohne ihre hockhackigen Schuhe wäre sie klein. Die Sohle war etwas abgetragen. Sie folgte seinem Blick und lächelte. „Das sind meine liebsten Schuhe. Hoch, aber bequem. Perfekt zum tanzen“, dann zog sie ihn mit einer fliessenden Bewegung ihrer einen Hand näher zu sich. Ihr Glück, konnte Ricky tanzen. Verdammt gut, um ehrlich zu sein. Er fasste sie mit der einen Hand an der Hüfte, der Stoff unter seiner Hand war kühl. Er strich ihr mit der anderen eine widerspenstige Locke aus dem Gesicht. „Ricky“, hauchte er ihr ins Ohr. Über ihre Schulter sah er Simeon und wunderte sich. Doch ihr Duft war stärker und er fragte sich, was passieren würde, wenn er die roten Lippen küsste: Hielt die Farbe? Ricky fand es immer äusserst anstrengend, wenn Frauen billigen Lippenstift verwendeten, der sich dann auch an seine Lippen klammerte und um ihre leicht verschmierte. Einen kleinen Kuss konnte man so bereits innert Sekunden erraten. Klar, ein bisschen sahen die Mädels dann aus, wie andere am Morgen danach. Bloss mit intakter Frisur. Das war ein klein wenig sexy, und dann doch auch wieder nicht. Das nächste Lied hatte begonnen, Ricky und Katja waren die einzigen im Raum, die tanzten. Ricky führte – langsam, Takt um Takt, hinaus aus dem Zimmer. Die Musik verstummte kurz, als Alois eine neue Platte auflegte, und Ricky fuhr mit seinem Finger leicht über Katjas Wange. Die Fingerkuppe streifte dabei ihre Lippen. Ein einfacher, unauffälliger Test: Kussecht. „Ich möchte dich sehen“, raunte er. Sie lächelte, griff langsam in ihr Haar und zog, was die Locken zusammenhielt, heraus. Die grünen Seidenbänder der Maske erschlafften, mit zwei Fingern hielt Katja sie fest, die Augen auf Ricky gerichtet. Langsam beugte er sich vor, schob einen Finger unter ihr Kinn und hob ihre Lippen zu seinen. In seinen Gedanken notierte Ricky eine Neun. Von zehn, nicht schlecht. Dann liess er sie und sie die Maske los. Katja war verdammt schön. Er stellte seinen Drink, den ihm irgendwer kurz zuvor in die Hand gedrückt hatte, auf den kleinen Beistelltisch, nahm ihr Gesicht in beide Hände und küsste sie. Wärme breitete sich bis in seine Fingerspitzen aus. Er freute sich auf alles, was noch kommen würde. Sehr. Katja schob ihre dicke Haarnadel in seine Hosentasche. Sie küssten sich wieder. Und wieder. Dann griff Ricky nach der Haarnadel, er mochte keine Gegenstände in den Hosentaschen, das ruinierte Stoff und Silhouette. Katjas Hände waren vielerorts und der Gedanke entsprechend kurz: „Komische Haarnadel. Sieht ja aus wie ein Messer.“ Er legte es auf den Beistelltisch.
19. Dezember
Wagners Walküren ritten durch die Nacht und rissen Ricky aus seinen Gedanken und mit sich zurück in die Gegenwart. Auf dem Display blinkte eine ungespeicherte Nummer. Soweit so normal, Ricky speicherte nur die wenigsten Nummern mit Namen ein. Kaum je brauchte er sich – zumindest bei den Frauen – von sich aus zu melden. Sie riefen an. Immer. Wenn es sich lohnte, dann merkte Ricky sich die letzten drei Ziffern ihrer Nummer. Bei Anna hatte es sich gelohnt. Ricky starrte auf das Display und sah doch noch immer das Bild von zuvor. Die WG von Alois, Katja, er erinnerte sich jetzt an sie. Daran, dass er sie entdeckt hatte, in dem Augenblick, in dem er die Wohnung betreten hatte. Er sah all die Menschen in ihren schicken Kleidern vor sich. Majestätisch die einen, elegant andere und viele, besonders die Frauen, hatten sich ein bisschen mit Schmuck und Schminke übertan. Zu viel des Guten fand Ricky schlimmer, als zu wenig. Er mochte seine Frauen so, dass sie auch am nächsten Morgen noch anzusehen waren. Selber legte er sich dafür ja ebenfalls ungemein ins Zeug. Seine Gedanken verloren sich einen Augenblick in den Minuten, die er Tage zuvor nackt vor dem Ganzkörperspiegel im Badezimmer verbracht hatte. Samtweiche Haut, perfekt getrimmte Haare, definierte Muskeln – ja, doch, Ricky war schwer zu schlagen. Das Telefon klingelte von neuem. 242, Anna, schon wieder. War wohl dringend. Ricky konnte Abwechslung brauchen: Er hob ab. „Hey.“ – War sie sauer?
„Hey zurück.“ – Nein, sie hatte absolut keinen Grund dazu.
„…“ – Oder doch? Ricky dachte nach.
„Alles klar bei dir?“ – Aufmunternd. Anna war die Lösung. Zumindest für die Nacht.
„Mhm“ – Ernsthaft: Was war ihr Problem?!
„Du klingst aber nicht so. Hör mal, ich bin schon fast in deine Richtung unterwegs, soll ich rasch vorbeikommen? Ich verspreche dir, du wirst dich sofort besser fühlen. Viel besser.“ – Ricky zog das „i“ von „viel“ sehr lange, wie einen Kaugummi, aber einen optimistischen.
„Hattest du das mit dem Messer eigentlich echt nicht gecheckt?“ – Eh, Moment: Bitte was?!
„…“ Scheisse! Das Geschenk. Ricky hatte sich so sehr ablenken wollen, daran hatte er einfach nicht mehr gedacht. Verdrängt, dass Anna alles wusste. Bloss was war das? Jetzt sah er das Messer und das Höschen und das Papier wieder vor sich. Angst packte ihn. „Ricky“, klang es fragend aus dem Hörer. Ricky hängte ab. Er lief, schneller und schneller, die kalte Luft brannte wie Feuer in seiner Kehle. Als er endlich inne hielt, hatte er keine Ahnung, wo er sich befand. Er zog das Telefon wieder aus der Tasche. Eine SMS blinkte auf. „Ich habe gesehen, wie du das Messer in die Schublade gelegt hast“, stand da. Anna hatte das vor 20 Minuten getippt.
20. Dezember
Rickys Hände zitterten. Zitterten in Einem fort. Der Alkohol hatte ihn verlassen – er konnte es ihm nicht verübeln. Langsam und mit plötzlich unendlich müden Beinen lief er den Weg zurück, den er gekommen war. Oder von dem er dachte, gekommen zu sein. Er hatte mit Katja gesprochen, mit Katja getanzt, Katja geküsst. Sie hiess Katja. Er kannte ihren Namen. Die Leiche war plötzlich ein Mensch. Sie hätte sein Abenteuer werden sollen. Ein grosses, Ricky wusste das immer vom ersten Moment an. Er hatte sie berührt, sie hatte die Nadel aus dem Haar gezogen und die Nadel war keine Nadel, die Nadel war ein Messer. Oder spielte seine Erinnerung noch immer mit ihm? Wieso war ein Stück da und ein anderes noch immer nicht. Warum war das erste überhaupt weg gewesen? Hatte ein Trauma alles gelöscht? War das Selbstschutz? Konnte er sich nicht mehr an den Mord erinnern, weil es zu schlimm für seine verzärtelte Seele wäre, ihn sich einzugestehen? Hatte er Drogen genommen, die er nicht bereits kannte? Hatte er eine schlechte Kombination erwischt? Hatte er es getan? Am Rand von Rickys Blickwinkel blinkte ein Taxilicht auf. Ricky war darauf geschult, die Lichter sofort zu erkennen. Automatisch schnellte seine Hand in die Höhe. Der Wagen hielt, Ricky stieg ein, nannte seine Adresse und lehnte sich auf der Rückbank zurück. Wenige Sekunden nur, dann schnellte sein müder Körper wieder herauf, er kramte in seiner Tasche nach einem blauen Geldschein. Fahren Sie mich mit so vielen Umwegen nach Hause, dass es genau 100 Franken kostet, okay?“ Der Taxifahrer blickte verwirrt. „Die Fahrt kostet Sie maximal 20 Franken. Wissen Sie das?“ Ricky musste jetzt in einem fahrenden Auto sitzen. Irgendwie tat ihm das leichte Vibrieren gut. Er dachte nach. Die Bar. Der Drink. Er hatte sich nach hinten gelehnt und diesen Mist zu Simeon gesagt. Er hatte das gesagt, weil er in diesem Moment Lisa entdeckt hatte. Lisa, die er hatte sehen wollen. Die er hatte nach Hause nehmen wollen. Lisa, die mit Alois befreundet war. Hatte Lisa ihn und Simeon mit an die Party genommen? Weshalb hatte er dann nicht mit ihr draussen vor dem Beistelltischchen gestanden? Er versuchte seit Wochen, Lisa rumzukriegen. Er war kurz davor. Sie zierte sich nur noch aus Prinzip. Wobei, das hatte sie immer getan. Egal. Er war kurz davor Er konnte sich nicht vorstellen, dass einfach so torpediert zu haben. Es ging hier um Jagd und Herausforderung und nicht zuletzt um Sieg und Genugtuung. Er wählte seine Beute, er jagte sie, er fasste sie. Aber er brachte sie nicht um! Das zumindest dachte Ricky von sich. Auch etwas anderes hätte er nie gedacht und dachte es nun doch: Wollte Anna ihn erpressen? Wollte sie Geld? Sie wusste, dass bei ihm einiges zu holen war. Sie kannte ihn. Ein bisschen. Aber wofür? Wofür, wofür, wofür?! Ricky atmete tief durch und griff erneut nach seinem Telefon. Die SMS von Anna war noch offen. Aber Ricky musste jetzt mit Lisa sprechen.
21. Dezember
„Arschloch.“ – Alles klar: Lisa hatte ihn in die WG geschleppt. Und: Er war wirklich kurz davor gewesen. Ge-we-sen. Soviel war klar. Das würde jetzt viel Arbeit brauchen…
„Lisa, hey! Hör mal, das tut mir alles so Leid, wirklich! Ich weiss gar nicht, was in mich gefahren ist. Als hätte ich irgendwas Falsches geschluckt, ich war so was von nicht ICH an diesem Abend!“ Lachen am anderen Ende der Leitung. War Ricky wirklich SO gut? „Ich hatte mir eigentlich vorgenommen, nicht ranzugehen, wenn du anrufst“, hörte Ricky durch die Leitung. Dass dieser Vorsatz am dritten Tag ohne Nachricht von Ricky arg ins Wanken geraten war und Lisa stetig und immer stetiger dagegen angekämpft hatte, nicht von sich aus zum Telefon zu greifen, um ihm, diesem, ja eben, endlich mal die Meinung zu sagen, hörte Ricky, schon immer ein talentierter Menschen-Durchschauer, so klar und laut heraus, dass er sich einen Sekundenbruchteil fragte, was nun Zeile und was Zwischenraum gewesen war. Doch da ging es am andern Ende der Leitung auch schon weiter: „Aber ganz ehrlich frage ich mich: Solltest du diesen Anruf nicht bei sonst wem machen? Oder hast du dich dort schon entschuldigt? Gleich in dem Moment, in dem nichts funktioniert hat?“ – Wovon sprach die Frau?! Entschuldigen bei wem denn? Ricky hatte es aufgegeben, sich durch die Haare zu fahren. Er kratzte sich am Kopf. „Ich kapier nicht, was du mir sagen willst.“ – Ehrlichkeit, sagte seine Mutter, war die beste Lösung. Und wenn Ricky auf jemand anderen als seinen brillanten Kopf hörte, dann am ehesten auf Mama.
„Lass uns Kaffee trinken. Morgen, 9 Uhr.“ – Ricky hatte eigentlich „ja“ sagen wollen, da hörte er am anderen Ende Lisa bereits nicht mehr. Sie hatte vor ihm aufgehängt. Er lächelte und gratulierte sich zu seiner Wahl. Er hatte es einfach drauf. Sein Bauch entkrampfte sich ein wenig. Er war jetzt aktiv – er forschte, er würde herausfinden, es, alles. Bald.
Lisa löffelte den Schaum ihres Cappuccino mit offensichtlichem Genuss, stand nicht auf, um ihn zu begrüssen und riet ihm, sich gar nicht erst etwas zu bestellen. „Du wirst weg sein, bevor der Kellner deine Bestellung in der Küche abgeliefert hat“, sagte sie und lächelte. Süffisant, fand Ricky. Dann wies sie ihn an, Jacke und Tasche an der Garderobe aufzuhängen. Doch als er zurück zum Tisch gehen wollte, kam sie ihm entgegen. Sie schob ihn in die Ecke zwischen Garderobe und Klo, liess ihre Hände in seine Gesässtaschen gleiten. Die einzigen Taschen, über die seine Hose verfügte. Ricky atmete tief durch. Damit hatte er nicht gerechnet – einen Augenblick wusste er kaum, wohin mit seinen Händen. Sie war jetzt ganz nah, ihre Fingerspitzen glitten unter seinen Pullover, unter dem Hosenbund, strichen seinen Nacken, seine Arm, stoppten über der Uhr – Rickys Kopf schwirrte. Sein Kopf war heiss, als er ihren Mund neben seinem Ohr fühlte: „Freu dich nicht zu früh.“
22. Dezember
Lisa sprach schnell und leise. Ihre Stimme war gepresst, Rickys Kopf bald wieder kühl.
„Du warst an dem Abend nicht du, ja? Erinnerst du dich an den Drink, den ich dir bei Alois in die Hand gedrückt habe? Womöglich hast du nicht mal gecheckt, dass ich das war. Dass ein Mensch und nicht nur pure Vergötterung den Drink hielt. Du bist ein so abartig verwöhnter, schleimiger, arroganter, menschenverachtender – nein, egal, das tut hier nichts zur Sache. Jedenfalls war es ein Amaretto Sour. Ich habe ihn selber gemixt, weil ich wusste, dass du die meisten anderen Getränke stehen lassen würdest. Ohne Rücksichtnahme darauf, dass jemand sich die Mühe gemach hat, ihn dir zu mixen. Ich war sauer. Nicht enttäuscht. Eifersüchtig vielleicht auch, ein wenig. Aber da ging es mehr um Stolz, als um dich. Ich hätte niemals – merk dir das – niemals mit dir geschlafen. Angepissed und angetrunken, als ich dich mit dieser Rothaarigen habe Tanzen sehen. Das war praktisch Sex, was ihr da im Wohnzimmer gemacht habt. Ich habe zugesehen. Ich war ganz ehrlich erstaunt, wie rasch du dein Ziel änderst. Dass wiederum hätte ich nicht erwartet von dir. Ich dachte, du bist einer, der jagt bis zum Schluss. Bis zum erlegen, oder so. Dann stand plötzlich dein Mitbewohner neben mir, der Kerl, den du überall hin mitschleppst, ohne ihn dort dann auch nur mit dem Arsch anzusehen. Weil du das ja nicht nötig hast und er das in deinen verzogenen Augen wohl auch nicht wert ist. Dabei liegst du damit falsch. Sehr falsch. Simeon ist toll. Ich finde Simeon toll. Sehr, sogar. Weißt du was? So toll, dass er kriegen wird, was du wolltest. Wofür du so viele Drinks bezahlt und Lernstunden verpasst hast. Tja, Ricky, so geht das nun mal. Manchmal kriegt man nicht alles, was man sich wünscht. Manchmal ist Mama nicht da, um einem alles und alle zu kaufen. Simeon hat sofort verstanden, warum ich euch beiden zusehe. Er hat sich zu mir gebeugt und gefragt, ob wir dir, im Namen all deiner vergangenen und zukünftigen Opfer, eine kleine Lehre erteilen sollen. Er hatte etwas dabei, von dem er sagte, dass es so ähnlich wirke, wie Roofies, bloss das nicht der ganze Mensch wegschläft, sondern nur der eine Teil. Jener, der dir nach den guten Noten und dem vielen Geld am wichtigsten ist. Beim Gedanken daran, wie du mit der kleinen Roten im Bett liegst, und nichts ausrichten kannst – da bin ich jetzt ehrlich – habe ich ein klein wenig Genugtuung verspürt. Nein, ich sagte ja, ich bin ehrlich: Ich fand den Gedanken wunderbar. Simeon auch. Wir haben gelacht, während wir dir den Extra-Cocktail mixten. Wusstest du, dass Simeon ziemlich tolle Drinks mixt? Wohl nicht. Weisst du überhaupt, wie Simeons Stimme klingt? Was er studiert? Wohl nicht. Dazu bist du viel zu sehr – DU.“ Nur bei dem einen, letzten Wort wurde Lisas Stimme ein klein wenig lauter. Sie lächelte. „Ich bezahle mit dem Geld, dass ich dir aus der Tasche gezogen habe. Du kannst gehen. Danke.“
23. Dezember
Ricky, der während der ersten Sekunden gedacht hatte, es handle sich um eine unentdeckte Art verbalen Vorspiels, fasste sich nun enttäuscht in die Tasche. Die blaue Note fehlte. Er hätte jetzt zurück ins Café gekonnt, um Lisa zu erklären, dass sie sich die Suche nach einem Handy oder einem Aufnahmegerät oder was auch immer sie auf ihm erwartet hatte, hätte sparen können. Er litt ja nicht an Verfolgungswahn. Lisa hatte sie ja nicht mehr alle. Es schien ganz so, als wäre sie sein erster Fehlgriff. Ricky war dennoch zuversichtlich, dass Lisa ihre gerechte Strafe bekommen würde. Zwar glaubte er nicht an eine höhere Macht, ausgleichende Gerechtigkeit oder Karma – aber er glaubte an die Anwälte seiner Mutter.
Seine Füsse trugen ihn automatisch zum teuersten Juwelier der Stadt, wo er die Armbänder abholen sollte, die er bereits vor Wochen für seine Eltern hatte gravieren lassen. Im Schaufenster überprüfte er mit einem kurzen Seitenblick seine Erscheinung. Fantastisch. Trotz allem. Ricky staunte immer wieder ob sich selber. Von dem einen, glitt sein Blick zu den anderen Schmuckstücken; an einer silbernen Kette baumelte eine venezianische Maske – und in Rickys Kopf eine Idee. Während der Verkäufer das dritte Geschenk einpackte, machte sich ein zartes Hochgefühl in Ricky breit. Nicht des Einkaufens wegen. Da hatte er eine hohe Toleranz. Aber: Die Pille von Lisa hätte dafür sorgen müssen, dass er für einige Stunden impotent gewesen wäre. Ricky lächelte, der Angestellte dachte, das gelte ihm und lächelte zurück. Ricky war in dieser Nacht bei Anna gewesen. Klar, die Erinnerungslücke – das Zeugs hatte schon gewirkt, bloss nicht da, wo Lisa das gerne gewollt hätte. Eine tiefe Zuneigung zu sich als Mensch, als Mann, als Phänomen, machte sich in Ricky breit. Der Moment, aufzuräumen war gekommen.
Anna stand vor ihrer Haustür und wühlte in der Tasche nach dem Schlüssel, als Ricky aus dem Taxi sprang – perfekt. Ricky überliess dem Taxifahrer Geld, Papiertasche und Adresse und ging, mit zerknirschtem Lächeln und dem kleinsten Päckchen bewaffnet auf Anna zu. „Ich hatte gehofft, dass du nicht da bist“, sagt er leise. „Ich wollte dir eigentlich nur rasch, also – hier!“ Er streckte ihr das Geschenk entgegen. „Natürlich habe ich verstanden, was du mir mit dem Päckchen sagen wolltest. Ich hatte einfach Angst. Weil, ich…“ Soweit so wahr. Nun ja, einigermassen. Alles andere war Interpretationssache. Anna hatte sich langsam umgedreht. In der einen Hand lag der Schlüssel, mit der anderen nahm sie das Päckchen. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie die kleine Schachtel einmal in die Luft warf und wieder auffing. Die Augen hatte sie dabei auf Ricky gerichtet. „Okay“, sagte sie und wiederholte das Wort, während sie sich umdrehte und hinein ins Haus verschwand. Ricky hatte etwas Aufschlussreicheres erwartet, aber das war schon – okay. Er bestelle ein Taxi und liess sich nach Hause fahren. Auf der Kommode beim Eingang, da, wo er es vergessen hatte, lag sein Telefon und blinkte rhythmisch. Erst vor wenigen Minuten war eine Nachricht von Simeon eingegangen. „Sag mal, wie schafft man das eigentlich: Zur rechten Zeit am rechten Ort sein“, stand da.
24. Dezember
Ricky hätte nicht gedacht, dass er irgendwann so tief sinken würde; hätte es schlicht nicht für möglich gehalten. Doch da stand er nun und wollte irgendetwas kaputt machen. Scherben sehen, Klirren hören. Er beschloss, Simeon, diesem Verräter, diesem hinterlistigen Betrüger, die Fensterscheibe einzuschlagen – mit dem Notenständer. Oh ja. Ricky stürmte in Simeons Zimmer, das Telefon noch in der Hand, Wut und eine Prise Verzweiflung im Bauch – und blieb stehen: Der Notenständer war weg. Plötzlich lag ein gedämpftes Klingeln in der Luft. Es dauerte einen Augenblick, bis Ricky begriff, dass das sein Telefon war: „Bongi am Apparat. Ihre Mutter lässt erinnern, dass Sie doch bitte bereits im Anzug erscheinen. Der Wagen ist um 18 Uhr bei Ihnen, Sie gehen dann direkt an das Konzert.“ Das Konzert? Ricky war anständig, wünschte frohe Feiertage, liess Simeons Zimmer intakt und begann, den Koffer für die Tage zu Hause zu packen. Und dann, plötzlich: Das Konzert! Logisch, klar, wie hatte er das vergessen können: Simeon war weg. Weg mit seinem Orchester, das irgendwelche verkappten Eigenkreations-Weihnachtslieder spielte, auf kleiner Deutschland-Tour. Den Flyer hatte Ricky sich angesehen, bevor er ihn vom Küchentisch – wo ihn Simeon sorgfältig hingelegt hatte – genommen und in den Müll geworfen hatte. Immerhin angesehen.
Um 18 Uhr stand kein Fahrer vor Rickys Tür, sondern der dunkelgrüne Jaguar seines Vaters. Das beutete, er musste den schweren Koffer selber in den Wagen hieven. Und vorne sitzen. Auch das noch. Langsam liess Ricky sich in den Sessel gleiten.
„Dr. Stoller hat angerufen. Wozu brauchst du Schlafmittel?“ Herr Latwerger war kein Mann verbalen Vorspiels. Ricky schlug die Beifahrertüre zu. „Der Mann untersteht ärztlicher Schweigepflicht.“ Motziger Unterton.
„Ricky“, sagte sein Vater. „Ich habe Stress, okay“, sagte Ricky.
„Du weisst, dass Mama die ist ohne Zeit. Mit mir kannst du reden.“ Ricky lächelte zu je exakt einem Drittel ertappt, erleichtert und gequält. „Ach“, sagte er dann, „es geht um ein Mädchen.“ Sein Vater lächelte nun voll und ganz verstehend: „Da kann ich dir helfen.“ Ricky lächelte gequält. Es wurde eine lange Autofahrt. Aus den Lautsprechern plätscherte die schlechte Musik des Lokalradios, dann wurde sie vom Jingle der Verkehrsmeldungen unterbrochen. Ein Unfall da, wo es immer Unfälle gab. Zum Glück waren sie in die andere Richtung unterwegs. „Hast du von der jungen Frau gehört, die Anfang Dezember in deiner kleinen Stadt ermordet wurde?“ Ricky konzentrierte sich darauf, seine Muskeln zu entspannen. „Ich glaube, die war an meiner Uni“, sagte er dann. Sein Vater seufzte den Seufzer, den alle Eltern seufzen, wenn ihr eigenes Kind sicher ist. „Natürlich absolut Klischee, was ihr passiert ist“, sagte er dann und Ricky spitze seine Ohren. „Ein psychisch Kranker. Multiple Persönlichkeit. Ich weiss nicht, ob ich das wirklich glauben soll. Zu sagen, dass fremde Stimmen einen befohlen haben, eine junge Frau derart grausam zu ermorden – und dann auch noch mit einer Gartenschere – das ist ja schon sehr einfach. Er wird wieder zurück in die Anstalt kommen. Kaum Konsequenzen. Der hat das doch gerne getan.“ Sein Vater war etwas fester auf das Gaspedal getreten. Jetzt liess er den Wagen kurz rollen. „Ausserdem hat die Polizei äusserst schlecht informiert. Franz hat mir von dem Fall erzählt, Simeon sei einigermassen durch den Wind gewesen, als er davon gehört habe – wollte erst gar nicht auf Tour. Zartes Gemüt, du kennst ihn ja. Ein Glück, hat er dich. Aber du kannst ja halt auch nicht immer…“, Richard Hanspeter Latwerger der Ältere seufzte über die Tatsache, dass sein Sohn nicht immer und überall die Welt retten konnte. „Er hat über Franz gefragt, ob es dir gut geht. Geniert sich offenbar, vor Gleichaltrigen zuzugeben, dass das Ganze, naja, und wollte wohl wissen, ob es dich auch, weil, offenbar hatte er das Mädchen flüchtig gekannt“, klärender Blick Richtung Sohn, der mit dem akkuraten Mass an Aufmerksamkeit wartete. „Ricky nicht, habe ich zu Franz gesagt. Ricky treibt sich abends kaum draussen rum, der hat genug zu tun – mit all den Ansprüchen, die er an sich stellt: Ehrgeizig – wie seine Mutter.“ Rickys Vater fuhr seinem Sohn mit der rechten Hand durch die Haare, den Blick auf die Strasse gerichtet. „Die beiden anderen Verdächtigen wurden bald wieder laufgengelassen. Stell dir das vor, Jungs, in deinem Alter, unschuldig, natürlich, die sich in der tagelangen Haft plötzlich zu fragen beginnen, ob die Polizei mehr weiss, als sie selber. Unglaublich. Da müsste etwas passieren. Dieser Fall beweist einmal mehr, wo wir mit unserem Beamtenapparat stehen. Schwierige Situation. Verbessserungspotential…“ Ricky hörte seinem Vater nicht mehr zu. War es tatsächlich möglich, dass niemand wusste, wo er gestanden hatte? Interessierte es keinen, dass von seinem Messer Blut getropft hatte?
Der Wagen verlangsamte und bald darauf liefen Vater und Sohn in das Konzertlokal, Rickys Mutter stand bei Simeons Eltern. Simeon dagegen etwas abseits – mit Lisa. Die beiden nickten Ricky kurz zu. Ricky winkte zurück. Er hatte halt Klasse. Dann griff er zu seinem blinkenden Telefon: „Ich hatte befürchtet, dass die Essenseinladung doch etwas zu abstrakt
war ;-)“, stand da. Dann folgte ein Bild. Anna, nackt. Sie räkelte sich auf ihrem Bett. Die silberne Kette umschmeichelte ihre Brüste. Über dem Gesicht lag eine goldene Maske. Die grünen Seidenbänder hatte Anna nicht zusammengeknüpft. Sie lagen lose in ihrem Haar.
„Tolle Maske“, tippte Ricky.
„Tolle Kette. Hätte nicht gedacht, dass du doch noch einsteigst. Let the fun begin ;-)“, schrieb Anna zurück. Ricky sank langsam auf den kühlen Konzertstuhl. Er lehnte sich nicht zurück.