Das Spiel heisst «Mach ihr Angst»

So ging ich letztens also wandern. Allein. Das fing mit Kinder-Pingui und herrlichem Wetter an und endete in der Badewanne. Und dazwischen lag Schock.

Der Erste, weil sich auf dem Kamm des Chasseral das Wetter innerhalb weniger Minuten von eitel Sonnenschein zu Schneesturm änderte. Der Zweite, weil ein Mann beschloss, ein wenig mit mir zu spielen. Das Spiel heisst «Mach ihr Angst».

Und es geht so:

Es ist früher Abend. Schnee und Wind haben sich gelegt und die Nebelgrenze liegt endlich über mir – ich sehe also die Hand wieder vor Augen. Wer schon mal vom Col du Chasseral im Berner Jura Richtung Nods gelaufen ist, der weiss: Hier gibt es viel Wald, kaum Häuser und abends kein Licht.

In der Dämmerung kommt mir ein schwarzer Wagen entgegen. Am Steuer sitzt ein Mann, vielleicht ein wenig älter als ich. Er schaut unverhohlen neugierig zu mir, der Wanderin auf einsamer Flur. Ich denke: «Was will denn der jetzt noch dort oben?» Oben gibt es bei schönem Wetter eine traumhafte Aussicht und am Wochenende ein geöffnetes Restaurant. Doch es ist weder Wochenende, noch schönes Wetter. Dem einen Gedanken folgt ein anderer: «Was schaut der so zu mir? Der sollte sich besser auf die verschneite Strasse konzentrieren.»

Langsam fährt der Wagen an mir vorbei und um die nächste Biegung. Ich laufe weiter, hinein in eines von vielen Waldstücken, durch die der Weg in weiten Serpentinen hinunter ins Tal führt. Vom Tal sieht man kaum etwas. Die Sicht ist richtig schlecht. Nur dank Google Maps kann ich abschätzen, wie viel Weg noch vor mir liegt. Spoiler: Es ist viel. Postautostellen, Häuser, irgendwas: nein. Kaum bin ich in das Waldstück hineingelaufen, höre ich hinter mir Motorengeräusch: Der schwarze Wagen hat gewendet. Ich weiss das, ohne mich umzudrehen. Denn ich weiss, dass von oben nichts anderes kommen kann. Oben ist nichts, kein Haus und keine Zufahrt. Die Strasse ist komplett verschneit, alle Zubringer gesperrt, die Fernsehantenne ganz oben auf dem Chasseral damit das Ende einer Sackgasse. Der schwarze Wagen fährt langsam hinter mir her. Irgendwann kann ich den Impuls, mich umzudrehen, nicht mehr unterdrücken. Ich schaue über die Schulter zurück und gehe demonstrativ noch weiter am Strassenrand, damit er problemlos überholen kann. Jetzt, wo er meine Aufmerksamkeit hat, fährt er schneller, holt auf und hält auf mich zu. Schliesslich fährt er in Schritttempo auf gleicher Höhe mit mir. Ich meine, durch meine Jacke die Wärme des Motors zu spüren. Ist wohl Einbildung. Er lässt die Scheibe herunter.

«Hey.»

Kann ich ihn ignorieren? So tun, als hätte ich ihn nicht bemerkt, ist unmöglich. Bevor ich mich zu irgendwas entscheide, fährt er schon fort.

«Bist du am Wandern?»

Ich nicke und hoffe ganz fest, dass ich locker wirke.

«Ja. Hatte gehofft, dass das Wetter besser bleibt.»

«Warst du ganz oben?»

Ich nicke erneut. Und verziehe das Gesicht.

«Das Wetter wird aber nur schlimmer, je höher man kommt.»

«Ich wollte von ganz oben den Sonnenuntergang schauen.»

Aha.

Er schaut mich intensiv an. Von oben bis unten. Immer wieder und ganz unverhohlen.

Ich bin mir der Einsamkeit hier oben unendlich bewusst. Niemand sieht uns. Niemand hört uns. Denn niemand ist da. Nur ich. Und er. Ich spüre, wie die Angst kommt.

«Fahr doch morgen nochmal hoch, da soll das Wetter besser sein.»

Ich will um jeden Preis verhindern, dass er merkt, wie unwohl ich mich fühle.

Er verzieht das Gesicht.

«Bist du allein unterwegs?»

Was soll ich sagen? Nein – mein Wanderpartner versteckt sich dort hinter dem Pfeiler am Strassenrand? Ganz offensichtlich bin ich allein unterwegs.

«Ja, aber mein Mann kommt mich dann mit dem Auto abholen – weil das Wetter so schlecht ist.»

Checkt er den Klassiker? Oder glaubt er mir?

«Willst du mit mir mitfahren?»

«Nett von dir, danke. Aber ein bisschen laufen mag ich schon noch.»

«Ist dir nicht kalt?»

Er hat mich jetzt mit der Front seines Autos soweit an den Strassenrand gedrängt, dass ich nicht mehr weiterlaufen kann. Ich müsste zurück und um das Auto herum. Er bremst komplett, lässt den Motor aber laufen.

Ich sage: «Solange ich ihn Bewegung bin, geht es ganz gut.»

Ich denke: «Lass mich doch einfach durch und fahr ab!»

«Es wird jetzt dann bald komplett dunkel.»

«Ich weiss, darum kommt mein Mann mich ja abholen.»

«Es ist noch sehr weit, bis zum nächsten Dorf.»

Ich zucke die Schultern.

«Willst du nicht mitfahren?»

«Nein, dann muss ich unten nur auf meinen Mann warten. Da ist es mir lieber in Bewegung zu bleiben.»

«Ich kann dich überallhin fahren.»

«Nein, aber danke.»

Ich bin ultimativ freundlich. Lächle. Er starrt.

«Warst du ganz oben, bei der Antenne?»

Ich nicke. Dann kommt mir eine Idee. Ich hab’ meinem Mann von dort oben ein Bild geschickt: Die schwarze TV-Antenne, ganz nah und trotzdem kaum zu sehen im dichten Nebel-Schnee-Gestöber. Ich zücke mein Handy, halte es so, dass er sieht: Konversation in Echtzeit. Da weiss wer, wo ich bin. Und erwartet Antwort von mir.

«Schau, das ist die Antenne. Man hat sie im Nebel kaum erkennen können.»

Er schaut sich das Bild an.

«Und von dort oben bist du jetzt alles runtergelaufen? So allein?»

«Ja, und jetzt möchte ich weiterlaufen. Schönen Abend dir – und pass auf. Es ist rutschig.»

Ich könnte ob meiner eigenen Freundlichkeit kotzen. Aber ich habe gelernt, dass sie mich schützt. Manchmal. In Situationen, wie dieser. Er schaut mich nochmals an, als würde er etwas abwägen. Dann lässt er die Scheibe wieder hoch und fährt weg. Ganz langsam. Und er beschleunigt auch nicht. Er fährt nie mehr als ein paar Meter vor mir her. Vielleicht, weil es rutschig ist? Vielleicht, weil er weiss, wie unangenehm es mir ist. Eben noch war er viel schneller unterwegs.

Ich zücke mein Handy und rufe meinen Mann an. Erzähle ihm alles und diktiere ihm die Autonummer, die ich vor mir in der Dämmerung sehe. Der Mann im Auto sprach gebrochen Deutsch. Jetzt weiss ich, warum: Der Wagen ist in Tschechien eingelöst. Mich tatsächlich mit dem Auto abzuholen, würde von Bern aus ewig dauern. Bringt also nichts. Polizei? Und was dann? Er hat ja nichts gemacht. Es ist ja nichts passiert. Es ist doch bloss ein Gefühl, sag ich. Obwohl die Strasse weder breiter noch weniger steil oder weniger rutschig wird, beschleunigt der Wagen vor mir irgendwann. Die Rücklichter werden kleiner und verschwinden hinter einer Kurve im nächsten Waldstück. Ich bleibe am Telefon, um sicher zu gehen, dass Mann und Wagen nicht im Wald auf mich warten. «Voll paranoid», sage ich und lache. Lachen, um dem fremden Mann meine Angst nicht zu zeigen. Lachen, um die Furcht zu vertreiben.

 Im Wald ist keiner und nach dem Wald auch nicht und irgendwann beenden wir den Anruf.

Ich schicke immer mal wieder meinen Standort via Whatsapp, während es um mich herum dunkler wird. Dann kommt die nächste Kurve, das nächste Waldstück und wieder ein schlechtes Gefühl. Ich greife zum Telefon. Als ich aus dem Wald komme, steht am Strassenrand der schwarze Wagen. Standlicht. Der Fahrer lehnt an die Fahrertür und raucht. Er beobachtet mich. Oder bilde ich mir das nur ein? Ich laufe telefonierend und ihn ignorierend an Mann und Wagen vorbei. Kaum liegen beide hinter mir, höre ich eine Autotür zuschlagen. Dann springt der Motor an. Aber kein Auto überholt mich. Er fährt erneut hinter mir. Nah und langsam. Soll ich mich umdrehen? Etwas sagen? Ich laufe demonstrativ auf dem gefrorenen Rasenstück am Strassenrand. «Du kannst an mir vorbeifahren», soll das heissen. Ich telefoniere weiter. Er überholt mich nicht.

Erst, als uns mit rasselnden Ketten ein Landwirtschaftsfahrzeug entgegenkommt, beschleunigt er endlich und ich sehe, wie seine Rücklichter die noch vor mir liegenden Serpentinen entlanggleiten und kleiner werden. Ich bin erleichtert.

«Er ist weg. Uff. Er ist weg!»

Und dann sind die Lichter plötzlich wirklich weg: Verschwinden hinter einem Hügel und tauchen danach nicht wieder auf. Gibt es dort eine Abzweigung? Oder wartet er erneut am Strassenrand?

Plötzlich blinken die Rücklichter hinter dem Hügel wieder auf, beschreiben einen Kreis und werden von Scheinwerfern ersetzt. Der Wagen hat gewendet. Ich überlege mir, ob ich mich hinter dem Holzstapel, der am linken Strassenrand aufgetürmt ist, verstecken soll. Oder einfach in den dunklen Wald hineinlaufen, damit man mich von der Strasse aus nicht mehr sieht? Ich bin kurz vor dem Sprung hinter die Holzbeige, als das Landwirtschaftsfahrzeug wieder auftaucht. Die Ketten rasseln und der schwarze Wagen wendet erneut. Fährt die Strasse entlang bis zu der Stelle, an der sie eine grössere Landstrasse kreuzt, auf der nicht viele, aber doch einige Autos unterwegs sind. Mittlerweile ist es pechschwarze Dunkelheit. Obwohl er längst nach links oder rechts hätte einfädeln können, bleibt der schwarze Wagen an der Kreuzung stehen, während ich immer näherkomme. Ich greife wieder zum Telefon.

«Vielleicht fragt er sich, ob es fahrlässig von ihm war, mich nicht mitzunehmen. Immerhin ist es stockdunkel jetzt und kalt und wirklich noch weit, bis zum nächsten Dorf. Vielleicht macht er sich ja Sorgen? Vielleicht meint er es gut und ich interpretiere hier irgendwas rein, weil ich Schiss habe. Vielleicht ist ihm gar nicht klar, dass sein Verhalten mir Angst macht. Vielleicht tue ich der Person mega unrecht.»

Kein Nachdenken am anderen Ende der Leitung. Nur ein trockenes Lachen. «Ich glaub nicht. Steht er noch immer dort?»

«Ja»

Mein Mann sucht am einen Ende der Leitung auf Google Maps nach der nächsten Postautohaltestelle. Ich am anderen Ende nach dem schnellsten Weg dorthin. Als ich vom Bildschirm wieder aufschaue, ist das Auto weg. Wohin, weiss ich nicht.

In die Erleichterung mischt sich die Sorge, dass der schwarze Wagen irgendwo in der schwarzen Nacht steht. Dass hinter der nächsten Biegung wieder Scheinwerfer angehen. Dass ich Motorengeräusch hinter mir vernehme. Aber alles bleibt ruhig. Ich laufe die dunkle Strasse entlang, die mich schliesslich auf eine noch grössere Strasse mit viel mehr Verkehr bringt. Ich laufe in der Dunkelheit am Strassenrand und denke, dass das mit meiner schwarzen Winterjacke ohne Reflektoren fahrlässig ist. Dann stosse ich auf einen schmalen Spazierweg, der von der Strasse abzweigt. Google Maps sagt, der kleine Weg führe in einem Umweg über die dunklen Felder in das Dorf, das mein Ziel ist. Dauert länger, ist aber sicherer. Das Fahrverbot am Anfang des Weges macht mir zusätzlich Mut. Ich biege ab.

Irgendwo auf dem Feld steht ein Stall. Kein Licht. Bis zum Stall wurde der Feldweg geräumt. Ein riesiger weisser Berg mitten auf dem Weg zeigt, wo all der Schnee gelandet ist. Während ich in einem grossen Bogen über das Feld um den Schneeberg herumlaufe, höre ich Reifen auf dem Feldweg knirschen und sehe meinen eigenen Schatten auf dem verschneiten Feld vor mir. Hinter mir sind Scheinwerfer angegangen. Der Bauer, der in seinem Stall zum Rechten sehen will, bevor er die Tiere die Nacht über alleine lässt? Ich drehe mich um. Viel sehe ich nicht. Der Wagen wird hinter dem Scheinwerferlicht von der Nacht verschluckt. Aber die Form kommt mir bekannt vor. Ein Traktor ist es nicht. Der Lack scheint dunkel. Schwarz – vielleicht.

Jetzt ist mir alles egal. Ich renne um den Schnee herum. Renne den jetzt tief verschneiten Feldweg entlang. Ich falle hin und stehe wieder auf. In den nächsten Tagen würde die Beule am Knie von blau zu violett und gelb wechseln. Aber in dem Moment spüre ich absolut nichts. Ich  höre, wie der Wagen am Schneewalm stehen bleibt. Schaue über die Schulter und sehe, wie er langsam aufs Feld hinausfährt. Versucht er meinen Spuren um das Hindernis herum zu folgen?

Plötzlich ist der Wagen still. Kein Motor mehr, kein Knirschen von Schnee unter Rädern. Nur mein zum Verzweifeln langsames Stapfen im Schnee. Steigt der jetzt aus und folgt mir zu Fuss? Ich hoffe, dass die Nacht mich mit meiner schwarzen Jacke und der schwarzen Hose längst verschluckt hat. Plötzlich jault der Motor wieder auf. Ein Geräusch von Rutschen und Spulen. Ich renne weiter. Das Spulen hört auf, alles Licht ist weg. Ich drehe mich um und sehe rote Rücklichter.

Den Rest des Weges bis zum Dorf stapfe ich  mit dem Telefon fest ans Ohr gepresst. Ich habe Angst, dass am Ende des Feldweges, dort, wo die grosse Landstrasse ins Dorf hineinführt, ein schwarzer Wagen auf mich wartet. Ein Mann mit einer Zigarette daran lehnt, den Blick hinaus in die Nacht gerichtet. Aber als ich in Nods ankomme, ist dort keiner. Nur Häuser und Lichter dahinter. Autos, die nichts anderes als Vorbeifahren wollen. Und schliesslich das warme, gelbe Postauto.

«Bonsoir», sagt der Fahrer und lächelt freundlich. Ich lächle zurück. Wenn er wüsste, wie erleichtert ich bin. In einem Abteil sitzen zwei Teenager und diskutieren laut. Der Rest des Postautos ist leer. Ich setze mich in ein Abteil nahe bei den beiden. Ich will dort sein, wo Menschen sind, die sich keinen Deut für ich interessieren. Ich telefoniere und schaue aus dem Fenster. Vom Postauto steige ich um auf den Zug und dann nochmals auf einen anderen. Daheim wartet mein Mann mit Suppe und Sorgen. Schliesslich sitze ich in der Badewanne, wärme mich langsam wieder auf und frage mich, wie viel Glück ich heute wohl gehabt habe.