Wie der Bundesrat versuchte, die Europäische Menschenrechtskonvention zu unterzeichnen, während die Schweiz selber gegen ein Menschenrecht verstieß. Und wie man diesen Zustand nach hundertjährigem Kampf endlich korrigiert hat.
Inez liebte die Rolling Stones, hasste den Vietnamkrieg und hatte letzten Freitag im Badezimmer ihrer Mütter einen Joint geraucht. Seit Kurzem fluchte sie nur noch auf Englisch. Es klang einfach wütender. Gerade allerdings half auch fluchen nicht mehr. Die Absätze von Inez’ Schuhen klapperten dumpf und schnell wie Trommelstöcke auf das Trottoir. Ihr Zug war mit Verspätung in Zürich angekommen. Die Tante, die sie zur Jubiläumsfeier im Schauspielhaus eingeladen hatte, wartete bereits ungehalten. Immerhin hatte es aufgehört zu regnen. Das war gut für die wartende Tante. Und gut für Inez. Sie hatte sich nämlich vor einer Woche einen Pony in ihr lockiges, dunkelbraunes Haar schneiden lassen. Die Stirnfransen betonten Inez’ dichte Brauen, lange Wimpern, strahlend grüne Augen und ihre markanten Wangenknochen. Kurz: Sie sah fantastisch aus – außer der Pony wurde nass. Dann kräuselten die kurzen Strähnen sich in alle Richtungen. Furchtbar. Angesichts des Datums, man schrieb den 10. November 1968, standen Inez also schlimme Zeiten bevor. Ein Pony war, hatte sie zu spät erkannt, bei ihrem Haar doch eher eine Sommerfrisur. Immerhin: Heute konnte Inez ihre Frisursorgen getrost ruhen lassen. Sie war unterwegs zu einer Altweiber-Feier und hatte sich auf Langeweile eingestellt. Außer der Tante würde im Schauspielhaus niemand Interessantes auf sie warten.
Es war nun auf den Tag genau zwei Wochen her, dass Inez in die Schweiz zurückgekommen war. Und schon erschien ihr das Leben eng und grau und die Menschen vorgestrig. Zumindest im Vergleich zu Kalifornien, wo Inez ein Jahr lang bei Familie Miller gelebt hatte. Sie war losgezogen, um Englisch zu lernen, und angekommen, um das echte Leben zu entdecken. So hatte Inez das ihrer besten Freundin Doris erklärt.
Im Saal des Schauspielhauses war es laut und schummrig. Inez konnte zwar nicht bis zu den Plätzen auf dem Balkon sehen, war aber trotzdem erstaunt, wie voll es hier war. Noch nie in ihrem ganzen Leben hatte sie so viele alte, graue Frauen auf einem Haufen gesehen. Erstaunlich. Ihr Flüstern und Reden ballte sich zu einem konstanten rauen Summen zusammen, das den Raum füllte. Dann aber begann der offizielle Teil der Feier und die Stimmen im Zuschauerraum verstummten. Die Sitze waren gepolstert und die Heizungen hochgedreht. Inez spürte, wie ihre Augenlider schwer wurden. Es war gestern spät geworden. Sie hatte zusammen mit Doris Joe Cockers neues Album rauf und runter gehört, über die Welt geredet, geraucht und über die eidgenössische Langeweile lamentiert.
Vorne auf der Bühne stand nun ein Herr Regierungsrat und gratulierte den Damen im Publikum zu ihrem Jubiläum.
«Seit 75 Jahren gibt es den Zürcher Frauenstimmrechtsverein nun schon. Sie haben vieles erreicht», sagte der Mann und machte eine ausladende Geste mit der Hand.
«Nur das nicht, wozu der Verein vor einem Dreivierteljahrhundert gegründet worden ist: das Frauenstimmrecht», murmelte Inez vor sich hin.
Dann gähnte sie ausgiebig, ohne die Hand vor den Mund zu schieben.
Während der Mann weitersprach, sank Inez’ Kinn langsam Richtung Brust. Sie schreckte noch einige Male hoch, dann war sie eingeschlafen. Die Rede plätscherte weiter, die Tante, die zu Inez’ Linken saß, nahm ihren Zustand schulterzuckend zur Kenntnis. Dann aber zerriss ein plötzliches Quietschen die Monotonie. Eine viel lautere, hellere Stimme hatte zu sprechen begonnen. Sie klang nicht feierlich, sondern herausfordernd. Inez schreckte hoch. Die Stimmung im Raum hatte sich verändert. Anspannung hatte die Behaglichkeit verdrängt. Die Damen lehnten sich nun nicht mehr zufrieden in ihre weichen Polster zurück, sondern beugten sich nach vorne. Dort stand ein Grüppchen junger Frauen. Sie hatten die Bühne gekapert und steuerten die Stimmrechtsfeier nun mit den eigenen Rudern. Eine der Frauen ergriff das Mikrofon.
«Meine Damen, Sie sind heute hierhergekommen, um sich Reden anzuhören, um zu feiern. Schön. Aber wir fragen uns: Wozu diese Feier mit Musik und Bankett? Wissen wir nicht, dass das Jubilieren den Blick auf unsere wirkliche Situation verdeckt? Wir sollten nicht jubilieren, sondern protestieren und diskutieren. Machen Sie einen Anfang! Lassen Sie die obligate Musik beiseite, die Diskussion ist eröffnet!»
Inez war nun hellwach. Die Frau fuhr sich mit der Hand durch ihre kurzen, blonden Locken. Die grauen Damen in den weichen Sesseln waren überrumpelt. Sie hatten sich auf gemeinsames Schulterklopfen und Champagner eingestellt. Es stand ihnen zu. All die Jahre hatten sie durchgehalten, ohne je eine Belohnung zu erhalten. Sie hatten die Musik und das Bankett, das Lob und die Wärme des Schauspielhauses redlich verdient. Aber da stand sie nun, die nächste Generation, die Herausforderung.