Als die Schweiz zur egalitärsten Demokratie der Welt wurde – für Männer. Die Geschichte einer jungen Frau, die mehr will, als sie darf.

Als Maya von Steig, geborene Bleuler, ein gesundes Mädchen zur Welt brachte, war sie enttäuscht. Gesund war gut – aber ein Junge wäre besser gewesen. Seit der Hochzeit hatte die Schwiegermutter auf einen Fehltritt gewartet. Von ihr, Maya Bleuler, die den letzten Spross der von Steigs geheiratet hatte. Ein Berner Patriziersohn, verführt von einer bürgerlichen Zürcherin. Ausgerechnet. Das hatte zu reden gegeben. Jetzt war er also da, der Fehltritt: ein Mädchen – und es sollte noch schlimmer kommen. Hélène Sophie war ein ärgerliches Kind und die Jahre machten sie nicht besser. Sie wuchs zu einer ärgerlichen jungen Frau heran, die ärgerliche Dinge tat.

Davon aber ahnte Maya von Steig an diesem Februarmorgen noch nichts. Die Hebamme führte mit ruhiger Stimme und geübten Handgriffen durch die Geburt, der Hausarzt war zu spät dran und Maya brüllte ihren Schmerz in immer kürzeren Abständen Richtung Decke. Nach sieben Stunden war endlich eine dritte Stimme zu vernehmen. Runzlig und schrumpelig hatte ein gesundes Mädchen sich an das Licht der Welt gekämpft. Die Hebamme durchtrennte die Nabelschnur, wusch das Kind und legte es eingewickelt in weißes Leinen an die Brust der Mutter. Maya war selig. Die Enttäuschung kam erst später. Der Hausarzt traf wenige Minuten vor dem Hausherrn ein. Er informierte Johann Gottlieb von Steig über die Geburt seines ersten Kindes: Mutter und Tochter seien wohlauf. Johann Gottlieb lugte durch die Tür, küsste seine Frau auf die abgetupfte Stirn und betrachtete das Kind, das die Hebamme ihm auf Augenhöhe präsentierte. Zögerlich fuhr er mit seinem tintengeschwärzten Finger über die Händchen und das Näschen. Er hatte nicht gewusst, dass der Mensch so klein begann, Mensch zu sein. Seine Finger fuhren über den schwarzen Flaum auf dem Kopf des Kindes und die Runzeln auf der Stirn. Eindeutig eine von Steig, befand er dann, dem Urgroßvater wie aus dem Gesicht geschnitten. Dann küsste er seine Frau erneut auf die Stirn, fühlte sich überflüssig in dem schlecht gelüfteten Raum und zog sich in sein Studierzimmer zurück. An seine Stelle trat die Schwiegermutter, eben zurück von einem ihrer Treffen mit den Kirchenfrauen, deren Vorsitz sie innehatte.

«Ein Mädchen», sagte sie kalt, «ein Mädchen leistet man sich zuletzt. Wenn die Linie gesichert ist, wenn man Buben auf die Welt gestellt hat. Ist dir bewusst, Maya, dass unser Geschlecht ausstirbt, wenn du keinen Buben gebierst? Ein Mädchen nützt uns erst, wenn wir wissen, dass wir bestehen bleiben. Dann lohnt es sich, das Kind gut zu erziehen und zu verheiraten. Wir nennen sie Hélène, hoffentlich wird sie zumindest hübsch. Zum Glück bist du noch jung und kannst noch oft schwanger werden.»

Tatsächlich sollte Maya noch viermal schwanger werden. Ein Kind verlor sie mit viel Blut und Schmerzen, kurz nachdem sie gemerkt hatte, dass sie guter Hoffnung war. Ein Kind, wieder ein Mädchen, starb kurz nach der Geburt. Maya gab sich Mühe, das Gute darin zu sehen. Und dann, erst dann, waren sie endlich da: die Buben. Erst kam Alfred Johann, ein Jahr später Viktor Emil. Und nach den beiden Jungen kamen bald auch die ersten Hauslehrer. Hélène, die Erstgeborene, wurde mitunterrichtet – das nütze zwar wenig, meinte der Vater, schade aber auch nicht. Kein Jahr nachdem der letzte Hauslehrer die Villa von Steig verlassen hatte, sollte Johann Gottlieb von Steig eines Besseren belehrt werden.