Die Welt befindet sich im Krieg, die internationale Schwesternschaft wankt. Da erkennt eine junge Frau, dass sie keine Lückenfüllerin mehr sein will.
«Und Sie?», fragte die Frau im gelben Kleid. Wie ein Kanarienvogel sah sie damit aus, fand Emerita. Nicht schrill, aber exotisch. Zumindest hier, in den Bündner Bergen. Anders als die übrigen Patienten trug Mary Fitzherbert stets ihre eigene Garderobe. Zum Kleid, das bis zur Taille eng saß und von dort in verschwenderischen Bahnen zu Boden fiel, hatte die Lady heute einen Strohhut und goldene Ohrringe gewählt. Emerita überschlug die Stoffmenge des Rocks im Kopf: Aus den gelben Bahnen hätte sie gut und gerne zwei Sonntagskleider nähen können. Sie war sich nicht sicher, ob die Frau wirklich eine Lady war oder ob die Angestellten im Kurhaus sie einfach so nannten, weil sie so elegant und erhaben wirkte. Emerita war neu im Kurhaus und neu in Arosa. Sie fühlte sich unsicher. Noch nie in den 17 Jahren ihres Lebens hatte sie ihr Tal verlassen. Jetzt war sie hier, einen Tagesmarsch von ihrem Elternhaus entfernt, und sollte lernen, sich um ihre Patienten zu kümmern.
Miss Fitzherbert hatte vom Krieg erzählt, der jetzt seit bald einem Jahr in Europa wütete, und Emerita hatte sich gefürchtet.
«Der Krieg hat auch seine guten Seiten», hatte Miss Fitzherbert gesagt, als sie Emeritas Angst bemerkte. «Ich glaube, er wird die althergebrachte Ordnung umkrempeln und etwas Neues entstehen lassen.»
«Der Krieg macht mir Angst, Miss Fitzherbert», sagte Emerita nach einer kurzen Pause. «Mein Vater steht seit einem Jahr an der Grenze. Darum bin ich ja auch hier, um Geld zu verdienen, damit wir einigermaßen durchkommen. Ich habe schreckliche Angst um ihn. Dabei ist die Schweiz nicht einmal aktiv dabei, beim Krieg. England hingegen schon, Sie müssen sich wohl wahnsinnig sorgen», Emerita stockte. Es stand ihr doch nicht zu, der Lady zu sagen, was sie zu fühlen hatte.
Zu ihrem Erstaunen lächelte Miss Fitzherbert.
«Ich sorge mich nicht allzu sehr. Die Menschen, die ich liebe, befinden sich nicht im Krieg. Zumindest nicht an jener Front, an der Blut vergossen wird. Obwohl auch sie natürlich viele Opfer bringen müssen», sagte sie und Emerita verstand nicht. Waren die Fitzherberts so reich, dass sie sich aus dem Krieg hatten herauskaufen können? War das möglich? Miss Fitzherbert sah Emeritas fragenden Blick.
«Die Frauen, meine ich», sagte sie lächelnd.
(…)
«Herrje», rief Emerita. Ein Windstoß bliess die Zeitungen, die sie der Lady bringen sollte, auf den Boden und verfing sich in den knisternden Seiten. Emerita hob sie auf und versuchte vergeblich, das dünne Papier wieder glatt zu streichen.
«Ach, lassen Sie nur, das wird nicht schöner, wenn ich zu lesen beginne», winkte die Lady ab, als sie hinter Emerita auf die Terrasse trat. Als Emerita die Post dennoch wieder möglichst hübsch zu drapierenversuchte, fiel ihr Blick auf das Bild von einem guten Dutzend formidabler Frauen, die sich an einer langen Tafel aufgereiht hatten. Hinter ihnen, Friedenszweigen gleich, eine Reihe von Palmwedeln. Vor ihnen, ebenfalls als Zeichen des Friedens, Sträuße verschiedener weißer Blumen. Unter dem Bild wand sich ein Band aus gedruckten Namen: «Die Damen am internationalen Frauenkongress in Den Haag». Emerita konnte den Blick kaum davon lösen. Anita Augspurg – aus Deutschland? Chrystal Macmillan – aus England? Da saßen Frauen aus verfeindeten Nationen nebeneinander an einem Tisch. Derweilen trachteten sich ihre Brüder und Väter in den Schützengräben nach dem Leben. Emerita blieb der Mund offen stehen.
Miss Fitzherbert folgte Emeritas Blick und nickte: «Frauenrechtlerinnen aus aller Welt wollten in Den Haag über den Frieden sprechen und Forderungen an die Nationen der Welt stellen, um den Frieden nach dem Ende dieses grässlichen Krieges lange erhalten zu können.»
«Da sitzen Frauen zusammen am Tisch, deren Vaterländer miteinander im Krieg liegen. Dass das überhaupt möglich ist», rief Emerita aus.
«Bei Männern bestimmt nicht. Wenn wir Frauen nicht eingreifen, gibt es über kurz oder lang einen zweiten und vielleicht gar einen dritten großen Krieg», sagte die Lady. «Viele meiner engen Freundinnen aus dem Vereinigten Königreich hatten sich ebenfalls für den Kongress angemeldet. Aber man hat ihnen keine Reisepässe ausgestellt. Herbert Henry Asquith gefiel es gar nicht, dass die englischen Frauen ohne ihn mit den Weltnationen verhandeln wollten. Dass Frauen sich überhauptdas Recht herausnehmen wollten, zu verhandeln und selber über ihre Zukunft zu bestimmen. Das gefiel dem Earl ganz und gar nicht. Keinem Mann gefällt das.» Jetzt klang die Stimme der Lady grob.
Emerita wusste nicht, wer dieser Earl Asquith war. Sie hätte die Lady gerne gefragt, aber Miss Fitzherbert schien plötzlich weit weg. Ihr Blick flog bereits über die Zeilen. «Meine mutigen Schwestern – mehr als tausend Frauen aus zwölfverschiedenen Nationen waren in Den Haag», murmelte sie, während sie las.
Emerita stand noch einige Wimpernschläge neben der Lady. Diese aber war nun vertieft in ihre Lektüre und hatte das Mädchen neben sich völlig vergessen. Emerita knickste unbemerkt und entfernte sich. Aber die Worte der Engländerin hallten in ihrem Kopf nach: «Meine mutigen Schwestern.» Sie weckten einen Stolz in Emerita, den sie zuvor noch nie gespürt hatte.
Ob auch Schweizerinnen nach Den Haag gereist waren, um für den Frieden zu kämpfen?