Eine junge Frau hat ein uraltes Problem. Weil sie damit trotz unserer modernen Zeiten nicht die Einzige ist, färben die Straßen sich schließlich violett: Es ist Frauenstreik.

Adrians Stimme verstummte abrupt: Amara hatte ihn weggedrückt. Sie stellte das Handy auf Flugmodus, schmiss es in eine Ecke und ließ sich auf das Sofa fallen. Sie spürte den weichen, hellgrauen Bezug an ihrem Kopf und legte ihre Füße auf das Beistelltischchen aus dunklem Holz. Adrian hatte es selbst gemacht, exakt nach Amaras Wünschen. Geschickt war er mit seinen Händen, das musste man ihm lassen. Ihr Blick fiel auf die Wand gegenüber. Dort, wo in den meisten Wohnungen der Fernseher platziert war, stand ein weißes Billy-Bücherregal. Adrian hatte viele der Bücher quer hineingelegt statt aufgestellt, weil sich der Platz so noch besser nutzen ließ. Das Regal quoll über. Aber Amara mochte es. In einem großen Topf am Boden neben dem Regal wuchs ein Avocadobaum. Er war der Beweis dafür gewesen, dass Amara recht hatte: Man konnte aus einem Avocadokern mit etwas Geduld eine Pflanze ziehen. Sie waren noch kein Paar gewesen, damals, als sie um den Avocadokern gewettet hatten. Nur wahnsinnig gute Freunde.

Über dem Baum hingen die Bilder. Adrian und Amara während ihrer Interrailreisen durch Osteuropa und Skandinavien, mit Rucksäcken auf den Schultern und breitem Grinsen im Gesicht. Adrian und Amara knutschend und verschwommen vor dem Eiffelturm. Scharf auf dem Bild einzig ihre beiden Mittelfinger, die sie in jugendlichem Klischee-Protest der Kamera entgegenstrecken. Adrian mit seinem Handballteam. Amara mit Mundschutz bei ihrem Einsatz auf der msc Mercy, einem Krankenhausschiff vor der Küste Afrikas. Amara und Adrian inmitten ihrer Freunde, Champagner und Bierflaschen Richtung Linse gereckt und Happy-2017-Sticker auf die Stirn geklebt. Eine viel jüngere Amara mit Rollkragenpullover, den Kopf an den orange-gold gemusterten Hidschab ihrer Mutter gelehnt, die Augen nicht auf die Kamera gerichtet, sondern auf Bruder und Vater, die für das mit Selbstauslöser geschossene Foto Grimassen schnitten. Es war das aktuellste Bild, das Amara von sich und ihrer Familie besaß. Es war das einzige Foto an der Wand, das von Glas und Rahmen geschützt wurde. Daneben Amara und ihre beste Freundin Sylvie auf dem Tandemvelo, mit dem sie Minuten später so heftig gestürzt waren, dass beide bleibende Narben davontrugen. Drei Frauen mit Schals und Mützen vor dem Sonnenuntergang in Zermatt. Amara mit dunkelrotem Cocktailkleid bei ihrer Bachelor-Feier. Ein Ultraschallbild, Adrians große, helle Hände auf Amaras großem, dunklem Bauch. Dieses Bild war noch keine zwei Wochen alt.

«Idiot», murmelte Amara und wandte den Blick ab. Sie strich sanft mit den Händen über ihren Bauch. «Nicht du», sagte sie liebevoll zu dem Kind, das mit seinen Füßchen von innen gegen ihre Bauchdecke stieß, als hätte auch es etwas in der Sache zu sagen. Und genau genommen hatte es das ja auch. Immerhin ging es hier um den Papa.

Seit fünf Jahren waren Amara und Adrian ein Paar. Davor fast ebenso lange beste Freunde. Auch seinetwegen hatte ihre Familie ihr den Rücken zugekehrt.

«Man wirft doch nicht alles einfach hin», murmelte Amara leise. Adrian war doch ihre Zukunft.

«Das möchtest du zumindest», sagte eine böse Stimme in ihrem Kopf.

«Aber jetzt, nach dem, was er mir und seinem eigenen Kind angetan hat – wie soll es da noch weitergehen mit uns?»